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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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als Schuldiger. Ich stand zwischen ihm und einem unbekannten
begangenen Verbrechen, und er stieß mich von sich, zum Übeltäter hin.
    Ich hätte auf mancherlei Art mit ihm
ins Gespräch treten können, wäre ich nur nicht so aufgeregt gewesen. Etwa
ruhig: Nicht zu verteidigen bin ich gekommen, sondern zu fragen. Mit großer
Geste: Schuldig ist er, sonst wäre er nicht eingesperrt, darf ich erfahren, was
er getan hat? – Maßvoll gekränkt: Er ist eingesperrt, gut; es wäre recht
gewesen, wenn ihr auch mich benachrichtigt hättet. – Man mußte mit einer
bestimmten Absicht vorgehen, etwas Bestimmtes wollen, mehr Festigkeit zeigen,
ich aber wählte die schlimmste Art, ich wählte sie nicht einmal, sie drängte sich
von selbst auf.
    „Ich möchte nach meinem Bruder
fragen", sagte ich zerfahren, ganz falsch beginnend, ohne Sicherheit,
gleich den schwachen Punkt enthüllend – ich brachte es nicht fertig, für
günstige Aufnahme und guten Eindruck zu sorgen. Dieses schwere, verschlafene
Gesicht zwang mich, irgend etwas zu sagen, alles auf einmal, damit er mich
erkenne, mich bemerke.
    „Nach dem Bruder? Was für einem
Bruder?"
    In dieser verständnislosen Frage, in
der toten Stimme, in der Verwunderung darüber, daß ich voraussetzte, er müsse
so etwas Unwichtiges wissen, spürte ich, wie mein Bruder und ich zu einem
Staubkörnchen schrumpften.
    Mögen mir alle ehrenhaften Menschen,
alle, die tapferer sind als ich, verzeihen, alle guten Menschen, die nie der
Versuchung ausgesetzt waren, ihren Stolz zu vergessen, aber ich muß es sagen,
nichts würde es mir helfen, wenn ich mir selbst die Wahrheit verschwiege: Nicht
seine absichtliche Grobheit hat mich gekränkt, auch nicht der schreckliche
Abstand, den er zwischen mir und sich selbst schuf. Erschreckt hat mich die
Situation, weil sie unerwartet war, ich fühlte mich bedroht, gefährdet, der
Bruder, der das Band zwischen uns hätte bilden können, war nicht vorhanden, ich
mußte ihn erst lebendig machen, ihn erst einmal vor diesen Mann hinstellen und erst einmal den Grad
seiner Schuld bestimmen. Was aber konnte ich sagen, damit ich dem Bruder keinen
Schaden zufügte und den Muselim nicht beleidigte?
    Ich äußerte mein Bedauern über das
Geschehene, das Unglück habe mich getroffen, wie einen der Tod des Nächsten
trifft, das Schicksal habe mich nicht vor dem Kummer bewahrt, den eigenen
Bruder dort zu sehen, wo man Sünder und Feinde hinschickt, und ich sagte, die
Leute blickten mich verwundert an, als fiele auch auf mich ein Teil der Schuld,
auf mich, der ich seit vielen Jahren gewissenhaft Gott und dem Glauben diente.
Und noch während ich sprach, wußte ich, daß dies häßlich war, daß ich Verrat
beging, aber die Worte flossen leicht und aufrichtig, die Klage über das
Schicksal fügte sich wie von selbst, und das dauerte, bis der Vorwurf aus
meinem Innern so stark und laut wurde, daß mich das süßliche Jammern über mich
selbst anwiderte – wegen der Feigheit, deren wahren Grund ich nicht kannte,
wegen der Selbstsucht, die jeden anderen Gedanken erstickte. Nein!, schrie
etwas in mir gegen das Hassenswerte meines Redens, bist du gekommen, dich
selbst zu verteidigen; wessen bist du denn angeklagt? Dein Bruder ist in
Gefahr, später wirst du dich schämen, wirst ihm die Lage erschweren, schweig
und geh hinaus, rede und geh hinaus, rede und bleib, blick ihm in die Augen, er
macht dir nur Angst mit seinem Götzengesicht, bring die grundlose Furcht zum
Schweigen, du hast keinen Grund, dich zu fürchten, erniedrige dich nicht mit
dem Gejammer vor ihm und vor dir selbst, sag, was du mußt.
    Und ich sagte es. Daß mein Bruder,
wie ich gehört hätte, etwas getan habe, was vielleicht unrecht
gewesen sei, ich wisse es nicht, aber ich glaubte nicht, daß es sich um etwas
Schweres handle, darum bäte ich den Muselim, die Sache zu prüfen, damit man dem
Eingesperrten nicht auch zuschreibe, was nicht geschehen sei.
    Wenig war es, was ich sagte, und ich
sagte es nicht tapfer und nicht ehrlich genug, doch mehr vermochte ich nicht.
Bleierne Müdigkeit bemächtigte sich meiner.
    Sein Gesicht blieb stumm, es verriet
weder Ärger noch Verständnis, aus seinem Munde konnte ebenso Härte wie Milde
kommen. Später erinnerte ich mich dunkel, daß ich in diesem Augenblick daran
gedacht hatte, wie doch jeder Bittende in einer schrecklichen Lage sei:
gezwungen, sich klein und gering zu machen, nichtig, getreten, schuldig,
erniedrigt, bedroht von den Launen eines andern, begierig auf

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