Der Derwisch und der Tod
es scheint in der Tat eine
besondere, dem Derwisch eigene Denkweise, eine Vorstellung von sich selbst und
der Welt zu geben, wobei alles, was unser ist, von den anderen abhängt. Keiner
kann so entwaffnet, so geistig verloren, so endgültig im Innern
zugrundegerichtet sein wie wir, wenn man uns als einzelne herauslöst. Und
selbst wir wollen es nicht recht wahrhaben, solange es nicht geschieht.
An der Holzbrücke, wo der Fluß einen
Bogen beschreibt, hielt mich der Nachtwächter an. Er stand im Schatten eines
Baums, verborgen, flüsterte auch mir zu, ich solle mich versteckt halten, bis
sie fort seien. Ein paar junge Burschen warfen mit Steinen nach der Laterne
jenseits des Weges.
Als das Glas zersplittert und das
gelbe Licht erloschen war, gingen sie ohne Hast fort.
Der Nachtwächter blickte ihnen ruhig
nach und erklärte mir, es sei ihnen schon zur Gewohnheit geworden, jeden Abend
etwas zu zerschlagen. Er aber halte sich versteckt, rette seinen Kopf. Und morgen
würden es die Bewohner des Stadtviertels bezahlen, wie komme er denn dazu, aus
seiner Tasche draufzulegen. Und wieso ich ihn fragen könne, warum er sie nicht
anzeige – wie solle er sie denn anzeigen, wenn er nicht weiß, wer es ist? Die
Nacht, die Dunkelheit, die Entfernung – da könne sich der Mensch schwer
versündigen. Und als ich ihm sagte, ich würde sie an seiner Stelle nicht
schonen, erwiderte er, er an meiner Stelle würde es auch nicht tun. So aber
handle er nach der Regel: nichts sehen und nichts hören; was bleibe ihm auch
anderes übrig, da er doch wie ein Kätzchen sei – ein Hauch könne ihn wegblasen.
Gott mochte wissen, wer sie seien, alle sattgegessen, sattgetrunken, teuer
angezogen, an nichts fehle es denen, und die trieben sich bis zum Morgen herum,
suchten Weiber – meine geistliche Würde möge es verzeihn –, suchten Unheil.
Die ganze lange Nacht sei er vor ihnen auf der Flucht, er halte sich versteckt,
damit er ihnen nicht unter die Augen komme, und wenn es ihm nicht gelinge, so
sage er ihnen: „Geht ein bißchen in eine andere Gegend"; sie aber sagen:
„Wir wollen nicht"; und er sagt: „Hört doch auf"; und sie sagen: „Du
bist ein alter Narr"; „ich weiß", sagt er, „und von Tag zu Tag ein
größerer"; „willst du, daß wir dich in den Fluß schmeißen", sagen
sie: „nein", sagt er. So sprächen sie miteinander, und er sehe zu, wie er
ihnen entwischen könne. So stehe es nun mit seiner Arbeit, meinte er, mancherlei
bekomme man zu sehen und zu hören. Die Nacht sei für das geschaffen, was man im
verborgenen tut, und er erfahre auf seinen Wanderungen bis zum Morgengrauen
auch das, was er gar nicht erfahren wolle und was ihn nichts angehe. Dabei
könne es so manchen angehen, bloß, er spreche nicht gern darüber, erst recht
nicht, wenn es keinen Nutzen bringe – warum soll man seine Zeit unnütz vertun?
Doch was er wisse, das brauche er nicht, er könne es weder essen noch trinken,
manch einem aber könne es dienlich sein. Dabei komme ihm das ziemlich seltsam
vor: Er weiß es, und es geht ihn nichts an, einen anderen geht es an, und der
weiß es nicht. Ihn, den Nachtwächter, gehe es nur dann etwas an, wenn er sein
Wissen einem anderen schenke, wenn er es dem überlasse, dem es von Nutzen sein
könne, und alles um der Liebe und Freundschaft willen – nur daß er gerade nicht
mit leeren Händen zu den Kindern nach Hause komme. Freilich, soviel müsse er
schon sagen: Freundschaft, es soll ja viel davon geben, aber im Grunde gibt sie's
nicht; nachts sehe er keine, und tags schlafe er, darum wisse er es nicht. Aber
von dem, was er wisse, sei er auch nicht glücklicher geworden. Schließlich habe
er schon die eigene Frau schief angeschaut, sich gefragt, ob sie nicht was
Böses gegen ihn im Sinne habe. Nun ja, was seine Frau betreffe, da übertreibe
er und lade Sünde auf seine Seele, das Auge würde sie auskratzen, das heißt,
ihr eigenes, wenn sie's für ihn tun müßte – er sage das mehr so des Beispiels
wegen.
Ich hörte mir den listig-irren Redeschwall
an, diese schlau berechnende Offenheit eines Spions für jedermann, eines, der
bereit ist, fremde Geheimnisse zu verkaufen, mich berührten sie nicht, doch
ich beeilte mich nicht, weiterzugehen, blieb lange stehen, verkürzte mir wie
ihm die Zeit, er hatte den Wunsch, zu erzählen, ich den Wunsch, zuzuhören, ganz
gleich, was, es begann mich sogar zu fesseln, wie er scheinbar einen Gedanken
verbarg und ihn dann ganz enthüllte, nicht ausdauernd in der
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