Der Derwisch und der Tod
nicht
glauben, daß du von meinem Bruder sprichst. Gott sagt das von den Ungläubigen,
mein Bruder aber ist ein Rechtgläubiger."
„Wehe denen, die nicht
glauben."
„Ich habe gehört, er sei
eingesperrt, weil er etwas gesagt habe."
„Es kann kein geheimes Verabreden
und kein Flüstern zwischen dreien geben, ohne daß Gott der vierte unter ihnen
wäre. Geheime Zusammenkünfte sind Satanswerk, denn Satan will Trauer über die
Rechtgläubigen bringen."
„Meinen Bruder kenne ich gut, er
konnte nichts Böses tun!"
„Du sollst den Ungläubigen nicht
Hilfe und Stütze sein!"
„Aber er ist doch mein Bruder!"
„Wenn euch eure Väter, eure Söhne,
eure Brüder, eure Weiber, eure Familien lieber sind als Gott, als sein Prophet
und als der Kampf auf Gottes Wegen, so hoffet nicht auf Gottes Gnade."
„O Rechtgläubige, hütet euch vor
Verdächtigung und Verleumdung, denn Verleumdung und Verdächtigung ist
Sünde."
Das sagte ich.
Ich zahlte jetzt mit gleicher Münze
heim, mit der Münze des Koran, ich konnte es nicht länger bei alltäglichen
Worten belassen, denn sonst wäre er der Stärkere geblieben. Er holte seine
Gründe aus dem Göttlichen, ich aus dem Menschlichen. Wir waren nicht
gleichberechtigt. Er stand erhaben über den Dingen und sprach mit
Schöpferworten, während ich versuchte, mein kleines Ungemach auf die Waagschale
gewöhnlicher menschlicher Gerechtigkeit zu legen. Er zwang mich, an meinen
eigenen Fall mehr die Maßstäbe der Ewigkeit anzulegen, um ihn nicht ganz
unbedeutend erscheinen zu lassen. In jenem Augenblick spürte ich nicht einmal,
daß ich in den Maßstäben der Ewigkeit den Bruder schon verloren hatte.
Und auch weiterhin verteidigte er
Grundsätze, während ich mich selbst verteidigte; er war ruhig und sicher,
während in mir ein Sturm tobte. Wir sprachen das gleiche, aber auf ganz
unterschiedliche Art.
Er sagte: „Um die Sünder weinten
weder Himmel noch Erde." Ich aber dachte: Wehe dem Menschen, wenn seine
Maßstäbe Himmel und Erde sind. Und er sagte: „Wahrlich, unglücklich wird der
sein, der seine Seele besudelt." Und weiter: „Oh, Zulkarnejn; Jedschudsch
und Medschudsch stiften Wirrnis auf Erden."
Darauf ich: „Oh, Zulkarnejn;
Jedschudsch und Medschudsch stiften Wirrnis auf Erden." Und weiter:
„Wahrlich, unglücklich wird der sein, der seine Seele besudelt." Und:
„Neben Wahrheit besteht Irrtum." Und: „Ihr Menschen, wollt ihr denn nicht,
daß Gott euch verzeihe – so verzeihet denn ihr und erbarmet euch!" Und
weiter: „Wahrlich, der Mensch ist ein großer Gewalttäter, und die Gewalttäter
sind der Wahrheit am fernsten."
Darauf schwieg er einen Augenblick,
dann sprach er ruhig, noch immer lächelnd:
„Wehe über dich, Wehe über dich,
abermals Wehe über dich!"
„Allah ist jedem Schutz und
Zuflucht", erwiderte ich bedrückt.
Dann sahen wir einander an, ich –
innerlich zerrissen von allem, was gesprochen worden war, bedenkend, daß ich
den Bruder vergessen und mich selbst belastet hatte; er – ruhig, den
hochgereckten Schwanz der widerlichen Katze streichelnd, die sich wohlig um
seinen Rücken wand. Zeit war es für mich zu gehen, wie gut wäre es gewesen,
wäre ich nicht erst gekommen, nichts hatte ich erfahren, nichts auszurichten
vermocht, dafür unnütze Dinge geredet. Denn auch der Koran ist gefährlich,
wenn du Gottes Wort von den Sündern auf den beziehst, der die Sünder beurteilt.
Tausendmal bereust du, was du gesagt, selten bereust du, was du verschwiegen
hast – diese Weisheit fiel mir ein, als ich sie nicht mehr brauchte. Besser
wäre es gewesen, ich hätte nur zugehört und allenfalls das gesagt, was am
meisten hätte nützen können; doch was mir hätte nützen können, das war mir
entfallen, dabei glaubte ich sicher zu wissen, daß es etwas Wichtiges gewesen
war. Mit gestern abend hatte es zu tun, und ihn betraf es und mich, die Frau
hatte gesagt, ihr Mann wisse nichts davon. Jetzt fiel es mir ein: Den Freund
hatte ich deswegen verraten.
Und ich berichtete kurz, die Scham,
die mich überflutete, unterdrückend, wie ich Hasan überredet hätte, auf die
Erbschaft zu verzichten. Nichts weiter, nur das. Nicht den geringsten Bezug
stellte ich her zu mir selbst, zu diesem Besuch, zu meinem Bruder. Er aber
würde den Bezug herstellen, er mußte es, und er würde diesmal nicht mit dem
Koran antworten können. Es lag auch schwarze Bosheit in meinem jähen
Gesprächswechsel und der schadenfrohe Wunsch, ihn mit seiner eigenen Habgier
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