Der Derwisch und der Tod
stets aber
schien es mir überraschend – rührte sich irgendwie tückisch eine seiner Hände,
kroch aus dem Ärmel hervor wie eine Schlange (ihre Hände waren wie Vögel), und
es rührten sich die Augen, die dann in ebensolche Augen, die der Katze,
blickten, einzig in diesem Augenblick ihre Starre mildernd.
Ich weiß nicht, wie lange ich so
saß, es dämmerte, dann wurde es dunkel, aus seinem Schoße glommen phosphorne
Augen, seltsamerweise glommen auch die seinen, oder es schien mir so, er hatte
vier funkelnde Augen, schließlich brachte man Kerzen (wie an jenem Abend, aber
ich dachte nicht mehr an die Frau, ich konnte es nicht), und es wurde noch
schlimmer, ganz unruhig machte mich sein totes Lächeln, mich erschreckte sein
Totenantlitz, mich erschreckte das Dunkel hinter seinem Rücken und der Schatten
an der Wand, mich ängstigte das leise Rascheln, als huschten Ratten um uns
herum. Am quälendsten jedoch war vielleicht der Umstand, daß er kein einziges
Mal die Stimme hob, seine Redeweise nicht veränderte, sich nicht aufregte,
nicht in Zorn geriet, nicht lachte. Gemächlich fielen die Worte von ihm ab,
gelb, wächsern, fremd, und immer von neuem wunderte ich mich darüber, wie gut
er sie fügte und den rechten Platz für sie fand, denn man hätte meinen können,
gleich würden sie, angehäuft irgendwo in der Höhle seines Mundes, aus ihm
herausfallen und sich ohne Ordnung verstreuen. Er sprach beharrlich, geduldig,
selbstsicher, kein einziges Mal war er im Zweifel, er ließ keinen Raum für eine
andere Möglichkeit, und wenn ich ihm widersprach – selten – , schien er
aufrichtig verwundert, so als hätte ihn das Ohr getrogen, als wäre er an einen
Irren geraten, und dann fuhr er fort, Sätze aus Büchern aneinanderzureihen,
fügte den Jahrhunderten ihres Alters den Moder seiner eigenen Starre hinzu.
Warum spricht er? fragte ich mich bangend. Meint er, ich kenne nicht die
wohlbekannten Sätze oder ich hätte sie vergessen? Spricht da nur sein hohes
Amt, seine Stellung, die ihn über das Gewöhnliche heraushebt? Spricht er aus
Gewohnheit, spricht er, um nichts zu sagen, oder spottet er, oder hat er keine
anderen Worte außer den auswendig gelernten? Oder quält er mich, um mich an den
Rand des Irrsinns zu bringen, und diese Katze ist darum hier, daß sie mir
schließlich die Augen auskratze?
Später kam ich zu dem Schluß, daß er
in der Tat alle gewöhnlichen Worte vergessen habe, und das
erschien mir schrecklich: kein einziges eigenes Wort kennen, keinen einzigen
eigenen Gedanken, stumm sein für alles Menschliche und ohne Not, ohne Sinn
sprechen, vor mir sprechen, als ob ich nicht da wäre, zu einer Art Sprechen
verurteilt sein, das Erinnern ist. Und ich war verurteilt, zu hören, was ich
wußte.
Oder war er ein Wahnsinniger? Oder
ein Toter? Oder ein Gespenst? Oder der schlimmste Plagegeist?
Anfangs traute ich mir selbst nicht,
ich sagte mir, es könne doch nicht sein, daß ein lebendiger Mensch vor ihm und
ein lebendiger Gefangener in der Festung ihn nicht auf ein einziges empfundenes
Wort bringen konnten, ein gegenwärtiges Wort. Immerfort versuchte ich, ihn zu
einem menschlichen Gespräch zu bewegen, irgend etwas über sich, über mich, über
ihn zu sagen, doch alles war umsonst, er sprach nur im Koran. Aber ach! Dennoch
sprach er von sich und von mir und von ihm.
Darauf schöpfte auch ich aus dem
Koran, er war ebensogut mein Gebiet wie seines, ich kannte ihn so gut wie er,
und es begann ein Zweikampf jahrtausendalter Worte, die an die Stelle der
unseren, der heutigen traten, und die geschaffen waren um meines eingesperrten
Bruders willen. Wir glichen zwei vernachlässigten Brunnen, die abgestandenes
Wasser sprudeln.
Als ich ihm gesagt hatte, weshalb
ich gekommen sei, antwortete er mit einem Satz aus dem Koran: „Wer an Gott und
an den Jüngsten Tag glaubt, halte nicht Freundschaft mit den Feinden Allahs und
seines Propheten, mögen es auch die eigenen Väter, die eigenen Brüder, die
eigenen Verwandten sein."
Ich rief flehend dazwischen:
„Was hat er getan? Wird mir endlich
jemand sagen, was er getan hat?"
„O Rechtgläubige, fragt nicht nach
Dingen, die euch in Sorge und Verzweiflung stürzen könnten, würden sie euch
offen gesagt."
„Bis zum Grabe werde ich dir dankbar
sein. Ich bin gekommen, damit man es mir offen sage. In Sorge und Verzweiflung
bin ich auch ohne das Wissen."
„Hochmütig wandelten sie auf Erden
und spannen böse Ränke."
„Von wem sprichst du? Ich kann
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