Der Derwisch und der Tod
Schlaubergerei.
Dann wurde er wunderlich und launisch, er war alt, wenigstens fünfzig, und alte
Männer mögen die Einsamkeit nicht, oder sie fürchten sich vor ihr. Er lud mich
ein, mit ihm die Straßen abzugehen, gewiß hätte ich niemals die Stadt in tiefer
Nacht gesehen, ein lebendiger Mensch aber müsse alles sehen, besonders schön
sei es gegen Morgen, wenn man in den Backstuben die heißen Rundbrote aus dem
Ofen hole. Wir könnten auch in Hasans Gasse gehen, wenn ich wolle, bei Hasan
gehe es heute lustig zu, er habe Spielleute kommen lassen,
wir könnten uns irgendwo hinstellen und lauschen, es sei keine Sünde, nein, es
könne so manches Menschen Seele aufheitern, auch die eines Derwischs. Es tat
ihm leid, daß ich nicht darauf einging. „Wie du willst", sagte er, „wie du
willst, es ist deine Sache – aber schade, daß du nicht magst." Ich
wunderte mich über diese Aufforderung, sie sah nach grobem Schmerz oder
kindlichem Wunsche aus. Jetzt würde er auf einen anderen warten.
„Na gut, dann geh", sagte er,
mich noch ein paar Schritte begleitend.
Ob er vor etwas Angst hatte? Er blieb unter einem überdachten
Hoftor stehen, unsichtbar im Schatten.
Merkwürdige Leute, dachte ich, während
ich durch die verödeten Gassen weiterging.
Alles verändert sich, wenn sich die
Dunkelheit senkt. Der Sünde ist keine bestimmte Zeit gesetzt, aber ihre
natürliche Zeit ist die Nacht (da schlafen die klugen kleinen und die
stumpfsinnigen großen Kinder, auch jene, die das Böse schon am Tage vollbracht
haben). Immer dann, wenn die Augen nichts sehen.
Das also haben wir erreicht: Wir
haben die Sünde in die Finsternis verdrängt und sie mächtiger gemacht.
Ich wanderte durch die still
gewordene Stadt, nur ganz aus der Ferne war die Stimme einer Zurna zu
vernehmen, von Zeit zu Zeit huschten menschliche Schatten vorbei, scheu wie
gezeichnete Seelen, Hunde bellten in den Vorstädten, das Mondlicht war wie
Blei, keine einzige Tür litte sich geöffnet, selbst wenn ich in Todesängsten
geschrien hätte, ich moche nicht stillstehen in dieser fließenden Stunde, alles
in mir drängte zu dem, was war oder was sein würde, dennoch gelang es mir
nicht, die Grenzen dieser Nacht zu überschreiten. Nur, es war eher so, als
nähme ich sie aus der Ferne wahr, als blickte ich vom Berge herab auf eine
schwermütige Landschaft: du siehst sie von außen und bist doch in ihr, getrennt
und dabei einbezogen. Winzig erschien mir jegliches in dieser meiner Welt, all
das Geborenwerden, das gerade jetzt geschah, all das Sterben, aH die Liebe, all
das Böse. In meiner Welt, denn eine andere gibt es nicht. Um sie herum sind
Schatten und leeres Mondlicht. Um uns herum ist das leise Tropfen der Zeit. In
mir kraftlose Gleichgültigkeit und leblose Stille. Kein inneres Leuchten, wie
bei den Ungläubigen.
Welches ist die ungekannte Sünde, um
derentwillen du mich strafst, mein Gott?
Ich bitte dich, erhöre mein Gebet.
Rettung und Frieden für Ishak, den
ich nicht finde in dieser Nacht. Rettung und Frieden für Ahmed Nurudin und
seinen Bruder Harun, die sich suchen in dieser Nacht.
Rettung und Frieden allen Verlorenen
in diesem großen Schweigen zwischen Himmel und Erde.
Ich hätte beim Nachtwächter bleiben
sollen, damit ich nicht allein wäre mit mir und meiner Ohnmacht, unfähig, mich
aufzulehnen, unfähig, mich zu fügen.
Im Innern leer und
wehmütig-gleichgültig. Dennoch spürte ich Freude, als ich mich der Tekieh
näherte. So war mein Inneres denn doch nicht leer, war mir nicht alles gleich;
denn es bedeutet Gutes, wenn dem Menschen etwas – ganz gleich was – lieb oder
leid ist. Und sobald ich diese winzige Gegenwart der Freude in mir entdeckt
hatte (ich spähte in meine Seele und nach allem, was in ihr geschah, so wie der
Ackermann zum Himmel blickt, nach den Wolken und den Winden, zu sehen, wie das
Wetter sein wird), fühlte ich mich sicherer – dank dem Schimmer von Heiterkeit
in den Wolken. Es ist da, auch wenn wir es nicht sehen, ist da, auch wenn wir
daran zweifeln.
Als ich die Schritte in meine stille
Gasse lenkte, als diese mich mütterlich aufnahm, da trat aus dem Schatten der
Tekiehmauer ein Mann hervor, zuerst erschien nur der Kopf im Mondlicht, als
wäre er aus einem Wasser aufgetaucht, als hätte er den Körper anderswo
gelassen. Er grüßte mich, gab sich Mühe, freundlich zu sein, weil er
ängstliches Erschrecken bei mir voraussetzen mußte.
„Lange bist du ausgeblieben",
sagte er. „Lange schon warte ich auf
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