Der Derwisch und der Tod
dich."
Ich schwieg, wußte nicht, was ich
sagen oder fragen sollte. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, obgleich ich mich
nicht erinnerte, ihn je gesehen zu haben, bekannt auf eigentümliche Weise: man
entdeckt eine Besonderheit, einen Ausdruck, einen Zug, den man schon einmal,
irgendwo, irgendwann, an irgend jemandem beobachtet hat und den man sogleich
vergißt, weil er nicht wichtig ist.
Ich blickte zur Tekieh hin, die
still und tot im Mondlicht lag, und als ich mich ihm wieder zuwandte, hatte ich
sein Aussehen schon vergessen. Ich drehte mich abermals um, wollte prüfen, ob
ich die Züge diesmal behalten hätte, doch umsonst, er verlor sich aus dem
Gedächtnis, sobald ich ihn nicht mehr sah, blieb auf ganz erstaunliche Art
gesichtslos.
Er bemerkte, wie ich ihn musterte,
und beeilte sich zu sagen:
„Freunde haben mich
hergeschickt."
„Was für Freunde?"
„Freunde. Ich hab schon gedacht, du
würdest heute abend überhaupt nicht mehr kommen. In der Tekieh haben sie mir
nichts sagen können. Hast dich lange irgendwo aufgehalten."
„Ich bin durch die Straßen
gewandert."
„Allein?"
„Ich war allein, bis jetzt. Und ich
war zufrieden."
Er lächelte – höflich, freundlich.
„Ich verstehe, natürlich!"
Er hatte ein flaches Gesicht, wie
zwei Handflächen, auseinandergedrückt durch die Nase, einen breiten, großen, zu
einem heiteren Lächeln verzogenen Mund, lebhafte Augen, die mich aufmerksam
ansahen. Er tat, als wäre er aufs höchste beglückt von unserer Begegnung und
als nähme er alles, was ich sagte oder tat, mit Freude auf. Sein Aussehen hätte
als angenehm gelten können, wäre es nicht Nacht und wären wir nicht allein
gewesen. Ich hatte keine Angst vor diesem Menschen, keine Spur von Angst fand
sich in mir, nicht einmal vor der Gewalt. Nur seltsam fühlte ich mich, eng wurde
es um mich herum. Ich war ungeduldig.
„Gut,
Freund, sag, was du sagen willst, oder laß mich vorbei."
„Erst bist du durch die Gassen
gewandert, hast Zeit vertrödelt, und jetzt auf einmal hast du's eilig!"
Ich versuchte vorbeizugehen, doch er
stellte sich mir in den Weg. „Warte! Ich sag dir, was ich will."
Er sah verwirrt aus, als suche er
die passenden Worte oder als sei es ihm peinlich, daß er mich aufhalte.
Wiederum zögerte er nicht, mich wirklich aufzuhalten.
„Du machst mir die Arbeit schwer. Jetzt
weiß ich nicht, wie ich anfangen soll."
„Hast lange
gewartet, hättest darüber nachdenken können."
Er lächelte belustigt: „Hast recht.
Mit dir geht's nicht leicht. Ach was. Vielleicht ist's am besten, wir gehn in
die Tekieh."
„Gut.
Los."
„Ist egal. Wir können's auch hier
erledigen. Was ich dir ausrichten soll, ist kurz. Was meinst du, von wem es
kommt?"
„Ausrichten läßt mir niemand etwas,
die Freunde sagen selbst, was sie wollen. Du aber treibst Spott mit mir, oder
du möchtest mich in Zorn bringen."
„Was nicht alles! Ihr gelehrten
Leute seid doch komisch. Vielleicht sage ich alles nur im Scherz? Können wir
uns denn nicht menschlich unterhalten! Also gut. Die Freunde lassen dir
bestellen, du sollst dir ein bißchen überlegen, was du tust."
„Du mußt dich geirrt haben, du weißt
gewiß nicht, mit wem du sprichst."
„Ich habe mich nicht geirrt, und ich
weiß, mit wem ich spreche. überlegen sollst du dir's. Du schießt zu weit vor,
das könnte gefährlich werden. Für dich, meine ich. Was lädst du dir Schuld auf
den Hals, wo dich selber doch keiner anrührt. Was hat man davon, wenn man sich
ohne Not in Not bringt. Ist's nicht so?"
Eine Drohung also. In betont
erniedrigender Weise übermittelt, durch den Mund dieses Polizeiflegels, der
sich noch auf eigene Rechnung mit mir seinen Spaß machte, indem er mir
Ratschläge gab. Jetzt war ich ihm interessant wie ein seltenes Tier, das sich
in der Falle gefangen hat, ein wenig mochte er mich auch: ich könnte ihm Freude
machen.
„Gut", sagte ich, meinen Zorn
beschwichtigend, denn ich wollte ihn nicht vor diesem Menschen zeigen. „Sag
deinen Freunden ..."
„Die auch deine Freunde sind."
„Sag also den Freunden, daß ich
ihnen für die Bestellung danke, obgleich sie es mir auch selbst hätten sagen
können. Für alles aber, was ich tue, werde ich vor Gott und vor meinem eigenen
Gewissen Rechenschaft ablegen. Hast du dir's gemerkt?"
„Freilich, freilich. Ich meine bloß,
man könnt auch vor einer anderen Stelle Rechenschaft ablegen. Vor Gott, das ist
leicht – er verzeiht. Vor dem eigenen Gewissen geht's noch leichter –
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