Der Dieb der Finsternis
haben.« Sonam lachte. »Wir unsere von Gott gelernt.«
»Ich möchte nicht despektierlich sein«, sagte Kunchen zu Venue und senkte dabei den Kopf. »Aber ich habe mich noch nie geirrt, da können Sie jeden fragen.«
Venue stand da und überlegte. Er schaute auf die elf Wachhunde, die sich bereits ihre Rucksäcke aufgeschnallt hatten. »Fünf Stunden, hast du gesagt?«, fragte er Sonam.
»Wenn alles gut sich geht, ja. Ich kann Sturm aber auch schon schmecken, ist in die Luft.«
Venue wandte sich an Iblis. »Sichere das Lager hier, lass alles in den Kisten. Sollte sich das Wetter verschlechtern, drehen wir um und warten hier. Lass uns nur mitnehmen, was wir tragen können, nichts, was uns langsamer macht.«
Binnen Sekunden herrschte reges Treiben im Lager, denn Iblis’ Männer machten sich sofort an die Arbeit. Derweil rollte Venue die Karte zusammen und steckte sie in seinen Rucksack. Iblis schnappte sich die lederne Transportrolle, in der sich der Stab befand, und warf sie sich über die Schulter. Cindy stand da wie ein Fisch auf dem Trockenen in ihrer so überhaupt nicht zum Wandern geeigneten Garderobe und sah aus wie der Prototyp einer zum Scheitern verurteilten Hochgebirgstouristin. Ihre Kletterschuhe waren schlecht gebunden, ihre Weste trug sie offen, und ihre Mütze hatte sie sich in die Jackentasche gestopft, als wollte sie unbedingt vermeiden, dass ihre Frisur litt. Sie war naiv im Hinblick auf das, was ihr bevorstand, beinahe so, als wäre ihre Intelligenz in dem Moment verflogen, als sie dem Zauber ihres Vaters verfallen war.
KC schüttelte angewidert den Kopf, hob ihren Rucksack vom Boden und schnallte ihn sich auf den Rücken. Dann schnappte sie sich die leere lederne Transportrolle, die eigentlich für die Karte gedacht war. Sie lag auf dem Tisch, den zwei der Wachhunde gerade wieder zusammenklappen wollten. Sie sah, wie sie den Tisch zusammen mit ein paar Taschen voller Vorräte in den Holzkisten verstauten, die am größten waren, und die Kisten verschlossen.
»Wartet«, rief KC und lief zu den beiden. Sie öffnete den oberen Teil der Transportrolle, ließ ihren Brief an Michael hineinfallen, schloss die Rolle und reichte sie einem der Wachhunde. »Wir sollen nur mitnehmen, was wir unbedingt brauchen.«
Der Wachhund steckte die Lederröhre in die große Kiste und verschloss sie.
KC sah sich um. Sie konnte nirgendwohin gehen, nirgendwohin fliehen. Sie hasste sich selbst, in diese Lage geraten zu sein, und verfluchte sich, jemals auf Iblis gehört und ihrer Schwester vertraut zu haben.
Als sie sich umdrehte, sah sie Venue, Cindy und Iblis, die bereits durch den Schnee und über die Felsen auf den Gebirgspass zustapften, der etwa zweieinhalb Kilometer entfernt war. Die Wachhunde folgten ihnen in Zweierpärchen. KC hätte nie gedacht, jung sterben zu müssen, aber die Möglichkeit war jetzt realer als damals, als man sie in der Gefängniszelle eingesperrt und zum Tode verurteilt hatte. KC drehte sich zu den beiden Bergführern um, die schweigend dastanden und sie anstarrten.
»Das ist eine schlechte Idee«, sagte KC, stülpte sich eine schwarze Wollmütze über den Kopf und stopfte ihr blondes Haar darunter. Sie nahm ihren Rucksack noch einmal ab und überprüfte ihn, nahm eine Flasche Wasser heraus und sicherte sie in einem Netzbeutel an der Seite. Dann schaute sie auf die Armbanduhr, setzte ihre Sonnenbrille auf und blickte hinauf zum Gipfel des Kangchendzönga.
»Sie schon mal geklettert?«, fragte Sonam.
»Nicht auf so einen Giganten.«
»Sie haben wenigstens Respekt vor dem Berg«, meinte Kunchen.
»Es wird fürchterlich, nicht wahr?«
Kunchen nickte und schaute dabei auf Venue und sein Team, die bereits davoneilten.
»Keine Sorge«, erklärte Sonam und bleckte seine schiefen Zähne.
Kunchen fügte hinzu: »Sie machen den Eindruck, als hätten sie Angst – mehr als sonst einer in der Gruppe –, und das ist gut. Vielleicht sind Sie am Ende die Einzige von uns, die überlebt.«
43.
B anyo Chodan hielt den Steuerknüppel des Helikopters ganz fest und lenkte ihn zum zweiten Mal innerhalb von vier Stunden über die sattgrüne Landschaft. Der ehemalige indische Militärpilot liebte seinen Job. Es machte ihm Spaß, reiche Europäer und Amerikaner durch die Gegend zu fliegen, die sich aus Katalogen Berge ausgesucht hatten, nur um behaupten zu können, dass sie schon mal auf dem Gipfel gewesen waren. Früher war das Bergsteigen den widerstandsfähigsten und abenteuerlustigsten Männern
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