Der Dieb der Finsternis
drückte einen zusammenklappbaren Tisch zur Seite, fand schließlich die Lederrolle, nahm sie heraus und öffnete sie. Dann warf er Busch einen kurzen Blick zu und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Röhre. Es waren zwei Seiten. Er faltete sie auseinander und begann zu lesen:
Liebster Michael,
es tut mir leid, dass ich dir diesen Brief hinterlasse. Ich weiß, dass deine Frau das bei vielen Gelegenheiten getan hat und dass es zwischen euch beiden etwas Besonderes war, nur ist das jetzt meine einzige Möglichkeit, Kontakt zu dir aufzunehmen.
Ich kann nicht gut mit Worten umgehen. Was ich weiß, habe ich vom Leben gelernt und nicht aus Büchern, aber eine Sache weiß ich ganz sicher, und dafür bin ich dankbar. Ich weiß jetzt endlich, was es bedeutet, geliebt zu werden und einen Menschen zu haben, der bedingungslos zu mir steht. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn du meine Seele in deiner warmen Hand hältst. Ich weiß jetzt, wie es ist, mich in einer Umarmung zu verlieren, ein Gefühl völlige Ruhe zu empfinden und von der Gewissheit erfüllt zu sein, geliebt zu werden. Du hast mir das Herz geöffnet.
Ich liebe dich von ganzem Herzen, Michael. Du bist das Erste, woran ich denke, wenn ich aufwache, und mein letzter Gedanke, bevor ich einschlafe. In der kurzen Zeit, die uns beschert war, habe ich eine Liebe gefunden, die andere in einem ganzen Leben nicht kennenlernen. Mein Herz und meine Träume gehören dir. Es tut mir leid, dass ich böse Worte zu dir gesagt und an dir gezweifelt habe, und ich bereue, dich vor meiner Tür abgewiesen zu haben, statt dich hereinzubitten. Du sollst wissen, dass die Leidenschaft, die ich empfunden habe, als wir uns geliebt haben, wundervoll war. Es waren die erfüllendsten und schönsten Augenblicke meines Lebens.
Wenn du diesen Brief liest, bedeutet das, dass ich unterwegs zum Berg bin. Ich bitte dich, mir nicht zu folgen. Wir sind auf dem Weg in den sicheren Tod, und ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass du meinetwegen stirbst.
Ich liebe dich und werde dich immer lieben,
Katherine Colleen
PS: Ich bitte dich, das hier an dich zu nehmen. Es war das erste und einzige Geschenk der Liebe, das ich je bekommen habe, und ich bekam es von dir. Ich habe es in den letzten Wochen stets getragen, weil es mir Kraft gab, wenn ich dachte, ich könnte nicht weiter. Jetzt bitte ich dich, es zurückzunehmen. Jedes Mal, wenn du es in der Hand hältst und an mich denkst, werde ich bei dir sein.
Michael griff nach der ledernen Transportrolle. Er streckte die Hand aus, drehte die Röhre um, und die silberne Halskette von Tiffany’s fiel in seine Handfläche.
44.
D rei Stunden waren sie inzwischen unterwegs. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten, und Venues Gruppe überstieg die Viertausend-Meter-Marke. Sie waren über den Gebirgspass gewandert, waren an einem Schneefeld vorbeigelaufen und hatten sich über felsiges Gestein in einen zehn Meter breiten Gang vorgearbeitet, der auf beiden Seiten von nacktem Granit gesäumt war, was den Eindruck vermittelte, als befänden sie sich im Inneren eines Schornsteins. Die Winde wurden stärker und peitschen ihnen mit einer Heftigkeit entgegen, dass die ungefähr null Grad kalte Luft sich anfühlte, als wäre sie minus zehn Grad kalt. Sie hatten sich ihre Jacken übergezogen und die Schals umgeschlungen, und ihr Atmen ging keuchend von der dünnen Luft und der Anstrengung.
Auch Venue bewegte sich inzwischen schwerfällig. Seine Wangen waren gerötet und feucht vom Schweiß; sein Alter machte sich bemerkbar. Doch er versprühte weiterhin Optimismus, und damit führte er sein Team und trieb es vorwärts.
Cindy hatte den Anschluss verloren. Niemand wartete auf sie, weil sie immer wieder auf dem glatten Schnee ausrutschte. Da sie an die Härten des Lebens in freier Natur nicht gewöhnt war, sah sie dermaßen erschöpft aus, als hätte sie zwei Marathonläufe hinter sich, ohne vorher je dafür trainiert zu haben.
KC hatte kein Wort mit ihrer Schwester gewechselt, seit sie in Indien gelandet waren, und ihre Wut auf Cindy erleichterte es ihr, voller Aggression weiterzuklettern. Doch als sie sah, wie erschöpft ihre Schwester war, machte sie kehrt und lief die fünfzig Meter zurück zu der Stelle, an der sie sich voranquälte.
»Alles in Ordnung?«, fragte KC.
»Mir geht’s prächtig«, erwiderte Cindy ironisch.
»Dann ist es ja gut«, sagte KC mit kalter Stimme. Das wenige Mitgefühl, das sie gerade noch empfunden
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