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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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Töchter würden eine anständige Ausbildung erhalten, und er würde voller Stolz wissen, dass er anständig für sie gesorgt und ihnen eine wesentlich bessere Existenz geboten hatte, als er es sich jemals hätte erträumen können.
    Kunchen Tsering galt als der erfahrenste aller Bergführer, weil er am meisten über die fünf Gipfel des Kangchendzönga wusste. Schon achtzehn Mal hatte er den Berg bezwungen, häufiger als jeder andere Mensch auf Erden. Er war ein bescheidener Mann der leisen Töne, und seines gesunden Aussehens wegen sah man ihm seine vierundfünfzig Lebensjahre nicht an. Er war im Schatten der ›Fünf Schätze des Schnees‹ aufgewachsen und kannte jeden Weg, der zu seinen fünf Gipfeln führte.
    Als der große, etwas ältere Europäer im Dorf Nachforschungen angestellt hatte, war Kunchens Name in aller Munde gewesen. Er war ein Experte, der sich mit dem schwierigen Gelände auskannte, der den Wind lesen und daraus die Wetterveränderungen schließen konnte – ein Alpinist, der Bergsteiger auf die höchsten Höhen der Welt geführt und sie sicher wieder heruntergebracht hatte.
    Doch war Kunchen ein Mann, den man sich nicht kaufen konnte; er hatte eine unkomplizierte Natur und Freude an den schlichten Genüssen, die ihm die Familie bereitete, und an seinem alltäglichen Leben im Einklang mit dem großen Himalaja, der für seine Existenz sorgte. Die Feinheiten des Kletterns hatte er vom Vater seines Vaters gelernt, einem Mann, der Lawinen überlebt hatte und plötzlich aufziehende Stürme, denen viele andere zum Opfer gefallen waren. Zum ersten Mal hatte Kunchens Großvater 1905 versucht, den höchsten Gipfel des Kangchendzönga zu besteigen – mit einer Gruppe, die von einem Engländer namens Crowley angeführt worden war. Vier Männer starben bei diesem erfolglosen Unternehmen, doch Crowley kam nie wieder, um es ein zweites Mal zu versuchen. Kunchens Großvater hatte immer viel von Crowleys Suche erzählt und Kunchen und seine Freunde mit den Geschichten beglückt, wenn sie in ihrer Jugend um das Lagerfeuer herum gesessen hatten. Er erzählte von Crowleys erfolgloser Suche nach versteckten Tempeln und sagenumwobenen Dörfern, die angeblich irgendwo in den höheren Regionen des gewaltigen heiligen Berges versteckt waren. Er erzählte die Geschichten so häufig, dass Kunchen sich später zwingen musste, nicht darüber einzuschlafen und keine glasigen Augen zu bekommen, wie es den meisten Kindern ergeht, die zum zwanzigsten Mal zuhören müssen, wenn einer der Älteren eine Mär erzählt.
    Als der groß gewachsene ältere Europäer sein Angebot auf fünf Jahresgehälter steigerte, wollte Kunchen wissen, was einen Menschen dermaßen faszinieren könne, dass er bereit sei, einen solchen Lohn zu zahlen, nur um die Gelegenheit zu bekommen, in den sicheren Tod zu klettern. Daraufhin erzählte der Mann Kunchen eine Geschichte, die dieser seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte – nicht mehr seit den lodernden Lagerfeuern seiner Kindheit und nicht mehr seit der Zeit, als sein Großvater von Aleister Crowley und dessen großer Suchaktion erzählt hatte.
    Am Ende war es nicht das Geld, und es waren auch nicht die flehenden Bitten eines verzweifelten Mannes, die Kunchen verlockten. Es war eine markierte Karte, die eine Route zeigte, die niemand je genommen hatte – nicht nur, weil es eine heimtückische Route war, sondern auch, weil sie an einem Pass endete, der als überwindlich galt, da er aus einer Felswand mit einem 130-Grad-Gefälle bestand, die im ewigen Eis lag. Kunchen erklärte, dass sie den Gipfel über diese Route niemals würden erreichen können. Doch ihn überzeugten schließlich die schlichten Worte, mit denen Venue antwortete: »Mein Ziel ist nicht der Gipfel, mein Ziel ist etwas sehr viel Höheres und Größeres.«
    Das waren genau die gleichen Worte, mit denen Kunchens Großvater seine Geschichte stets begonnen hatte; es waren die gleichen Worte, die Aleister Crowley vor über hundert Jahren zu seinem Großvater gesagt hatte.
***
    Der HAL DHRUV landete auf einem offenen, zum Teil verschneiten Stück Land, das sich am südlichen Fuß des Kangchendzönga erstreckte. Wie eine Treppe, die in den Himmel führte, erhob sich der Berg schneebedeckt und majestätisch über dem verlassenen Camp, das sich ungefähr auf halber Höhe zwischen Tal und Gipfel befand.
    Iblis’ Männer zogen auf beiden Seiten des Helikopters die Schiebetüren auf und kletterten nach draußen, als wären sie auf einer

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