Der Dieb der Finsternis
und der Wind eisig war.
Sie trugen beide eine komplette Bergsteiger-Ausrüstung: Daunenjacken, Handschuhe, Gesichtsmasken, gelb getönte Schutzbrillen – keine einzige Pore war den plötzlich so harschen Elementen schutzlos ausgeliefert. Der Schnee wirbelte um sie her, und die Stille wurde nur vom Aufheulen einzelner Windböen unterbrochen und von einem Geräusch, das sich anhörte wie das Rieseln von Sand und das immer dann ertönte, wenn Schnee gegen die Felswand gepeitscht worden war.
Sie hatten sich mit einem dreißig Meter langen Stück Kernmantelseil aneinandergebunden. Da die Sicht fast null betrug, hätte ohne Seil die Gefahr bestanden, dass sie getrennt wurden, selbst wenn sie nur wenige Meter voneinander entfernt waren. Das Heulen des Windes übertönte fast jedes andere Geräusch, sodass Michael und Busch den Mund gegen das Ohr des anderen pressen mussten, wenn sie sich verständigen wollten.
Sie hatten beide ihre Äxte herausgeholt und benutzten sie, um im Wind das Gleichgewicht zu halten und besseren Halt auf dem vereisten Boden zu finden.
»Wovon muss ein Mensch besessen sein, um so etwas freiwillig zu tun?«, brüllte Busch Michael ins Ohr.
Michael schüttelte den Kopf, denn er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hatte Achyuta und Max schon vor über einer Stunde wieder nach unten geschickt. Da Busch das Navigationsgerät bei sich hatte, waren die beiden jungen Brüder nur für den Fall mit von der Partie gewesen, dass die Elektronik versagte, aber ausnahmsweise schienen die Geräte zu funktionieren. Zunächst hatten die Brüder sich gesträubt, weil sie hofften, ihr erstes großes Abenteuer fortsetzen zu können, doch als der Sturm eine Windstärke von mehr als fünfundsiebzig Stundenkilometern erreichte, gaben sie nach.
Busch lehnte sich gegen die Felswand, zog das Navigationsgerät hervor, das er mit dem Körper vor Wind und Kälte schützte, und warf einen kurzen Blick darauf: Der rote Punkt war nur noch anderthalb Kilometer vor ihnen und hatte sich in den letzten zwei Stunden nicht mehr von der Stelle bewegt.
Michael konnte sich nicht vorstellen, wie es auf dem Gipfel des Berges war, in achteinhalbtausend Metern Höhe, auf dem Dach der Welt. Sie waren jetzt auf viertausenddreihundert Metern, und obwohl sie beide körperlich fit waren, keuchten sie wie die Packesel, während sie sich den Berg hinaufschleppten.
Sie stapften über weites freies Gelände und durch tiefen Pulverschnee. Bei jedem ihrer riskanten Schritte brannten ihre müden Beine. Da die Sichtweite so gering war, hätten sie ebenso gut in einem Krater sein können. Sie wussten nicht mehr, in welche Richtung sie sich bewegten, und waren gezwungen, den Kompass zu Hilfe zu nehmen, um nicht die Orientierung zu verlieren und in dem Schneechaos, das sie umgab, im Kreis zu laufen.
Sie gelangten an eine breite Einmündung, eine Lücke in der Felswand, die aussah wie eine vierspurige Autobahn. Sie war auf der Karte besonders hervorgehoben und führte zu der Stelle, an der auf dem Navigationsgerät der rote Punkt blinkte. Michael und Busch traten durch die Einmündung und fanden sich auf einem Weg aus blankem Eis wieder, auf dem Neuschnee lag. Der Weg wirkte wie ein Miniaturgletscher, einer von den vielen zugefrorenen Flüsschen, die das Wasser führten, das auf den Höhen des Berges taute. Michael war erstaunt, als er feststellte, dass das Eis größtenteils so rein und klar aussah, als würde ihm ständig neues Wasser zugeführt – wie bei einer langsam arbeitenden Eismaschine, die glasklare Eiswürfel produzierte.
Er kletterte den Weg hinauf. Er war von Felswänden eingeschlossen und verjüngte sich im weiteren Verlauf zu einer knapp zehn Meter breiten Gletscherspalte, die den Granit des Berges in zwei Segmente teilte. Sie mussten gegen den Wind ankämpfen, und ihre Füße rutschten ständig auf dem eisigen Boden ab, doch sie gruben ihre Äxte in den Grund und kämpften sich weiter. Sie brauchten fast eine Stunde für die anderthalb Kilometer und quälten ihre Körper dabei aufs Äußerste.
Und dann standen sie plötzlich in einer Sackgasse, vor einer riesigen glatten Felswand, die sich bis ins Nichts erhob. Der Wind und der Schnee um sie her waren wie ein eisiger Hurrikan. Busch schaute auf das Navigationsgerät. Er befürchtete, dass es defekt war; der rote Punkt befand sich auf der anderen Seite der Felswand. Sie sahen sich um, tasteten nach einer Öffnung, nach einem Höhleneingang, nach irgendeinem Weg, der es
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