Der Dieb der Finsternis
Familienoberhaupt im alten Rom die Macht des »vitae necisque potestas« besaß – die Macht über Leben und Tod seiner Kinder –, war es nicht schwergefallen, sich für ihren Tod zu entscheiden. Er war ein Mann, der so von seiner eigenen Großartigkeit besessen war, dass er alles tat, um sein zerbröselndes Imperium zu retten. Dafür stürzte er den Rest der Menschheit leichten Herzens ins Unglück, dafür ließ er ohne jegliche Gewissensbisse Menschen sterben, sogar sein eigen Fleisch und Blut, alles, um seine Ziele zu erreichen.
KC hatte nie die Absicht gehabt, sich in Michael zu verlieben. Sie hatte nie gewollt, dass er in diese Geschichte hineingezogen wurde, und doch war es so gekommen, und das ihretwegen: Ob bewusst oder unbewusst, hatte sie Michael mit ihren Handlungen dazu verdammt. Wenn hier also jemand sterben musste, dann sie. Michael war nicht derjenige, der hier den Preis zahlen musste. Sie hatte sich freiwillig für das Leben entschieden, das sie geführt hatte; sie hatte Verbrechen begangen und die Gesetze der zivilisierten Welt ignoriert. Das hier war ihr Karma, und besonders in diesem Teil der Welt sollte sie ihr Karma erfüllen, nicht Michael.
Es gab keinen Zweifel, dass sie Michael töten würden. Iblis hatte es wortwörtlich gesagt: Falls er noch einmal die Chance bekäme, würde er den gleichen Fehler nicht noch einmal begehen.
Wieder flossen die Tränen. KC drehte Busch den Rücken zu, weil sie nicht wollte, dass er sie in diesem Augenblick der Schwäche sah. Sie schloss die Augen, klammerte sich an die Erinnerungen an Michael. Sie hatten nur sehr wenig Zeit miteinander gehabt und hatten dabei meist unter Druck gestanden oder sich gestritten. Trotzdem hatte KC ihm immer wieder ins Herz blicken können. Sie war ihm wichtiger gewesen als alles andere; deshalb hatte er ihr selbst in den gefährlichsten Situationen geholfen, ohne Fragen zu stellen. Bis vor sechs Wochen hatte KC ein Leben der Entsagung geführt, hatte sich immer nur gesehnt, hatte immer nur gehofft, einen Menschen wie Michael zu finden. Und nun, nachdem ihr dieser Wunsch erfüllt worden war, musste sie mit ansehen, wie ihr Glück gleich wieder zerstört wurde.
»Wie geht es Michael?«, fragte Busch.
KC brachte es nicht über sich, zu antworten, aus Angst, dass sie endgültig schlappmachte.
Das Krachen des Gewehrs dröhnte durch die Höhle und schmerzte in KCs Ohren.
»Was hast du getan?«, fuhr sie Busch an.
Busch blickte zu ihr auf. »Was meinst du denn, was ich getan habe?«
»Ich verstehe nicht …« KC blickte zum Tempel hinüber und sah den Wachhund tot auf dem Gehweg liegen. »Du hast diesen Kerl erschossen.«
»Ja«, sagte Busch.
Erst in diesem Moment sah er die Trauer auf KCs Zügen, stand auf und ging zu ihr. Er lächelte sie liebevoll an und wischte ihr mit dem Daumen die Tränen von den Wangen.
»Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass wir ihn hierlassen.«
»Was meinst du damit?«
»Wie viel hast du vom Innern dieses Tempels gesehen, KC?«
»Eine ganze Menge.«
»Und weißt du, wohin sie Michael gebracht haben?«
Sie nickte.
»KC, Michael wusste, dass du freiwillig nicht herauskommen würdest. Er hat darauf gesetzt, dass du dir den Grundriss einprägst, damit wir hinterher gemeinsam reingehen und seinen Hintern retten können. Unter anderem hat er dich hergeschickt, damit du mir erzählen kannst, wo wir hingehen müssen, wenn wir erst wieder im Tempel sind. Ich weiß, dass er dich liebt, KC. Er würde sein Leben für dich opfern, aber nicht heute.«
52.
Z wei Wachleute flankierten Michael, als sie durch den steinernen Korridor tiefer in den Tempel vordrangen und schließlich das Mandala-Vestibül erreichten, von dem die vielen Gänge abzweigten. Sie nahmen den einen Weg, den Michael zuvor nicht erkundet hatte, den Weg zu den Treppen, die nach unten führten. Michael war überzeugt, dass sie sich im Innern des Berges befanden, als sie die lange Wendeltreppe nach unten stiegen.
Unten angelangt, sah Michael die Tür. Es war ein schockierender Anblick, schlimmer, als er erwartet hatte. Er fragte sich, was im Kopf eines Menschen vorging, der eine solche Abscheulichkeit schnitzte, und ob man bereits dem Wahnsinn verfallen sein musste, um so etwas überhaupt zu tun.
Venue reichte Michael die lederne Transportrolle. »Wenn du so freundlich wärst …«
Michael nahm die Rolle und klappte den Deckel auf, hielt im nächsten Moment aber inne. Die Tür erfüllte ihn mit einer Furcht, wie er es nie erlebt
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