Der Dieb der Finsternis
Körpers spüren. Es war Furcht erregend, als würden sämtliche Toten, die auf Erden begraben lagen, gleichzeitig die Stimmen erheben, voller Zorn, dass man sie geweckt hatte.
Plötzlich sah Michael, dass sich auf der Tür etwas bewegte. Die Schlangen, die um den Stab geschlungen waren, begannen sich zu winden, bewegten sich aus eigener Kraft, als wären sie lebendig, gruben sich in die Holzschnitzereien und verschmolzen mit der Tür.
Ein keuchender Laut drang aus den Ritzen der Tür. Es klang wie der rasselnde Atem des Todes, war aber genau das Gegenteil: Es war der Atem des Lebens. Was immer sich hinter dieser Tür befand, sog die Luft in sich auf, die man ihm zu einer Zeit versagt hatte, an die niemand mehr sich erinnern konnte.
Iblis trat vor die Tür, griff mit beiden Händen nach dem Stab und zog daran. Die Tür gab ohne Widerstand nach und schwang auf. Eine Woge heißer Luft strömte nach draußen. Einer der Wachhunde trat vor und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die pechschwarze Finsternis. Eine Steintreppe wurde sichtbar. Es war keine Treppe im herkömmlichen Sinne mit gleichmäßig hohen und breiten Stufen, die fachmännisch gemeißelt waren. Was sie hier vor sich sahen, war eine Treppe, die von der Natur in den Stein geschlagen und von Menschenhand vergrößert worden war.
»Erzähl uns hinterher, was du gefunden hast«, sagte Iblis.
Michael starrte den dürren Mann an und hätte ihn am liebsten in zwei Teile zerbrochen.
»Falls du Angst hast, schicke ich Cindy gerne mit«, spottete Venue.
Michael blickte auf Cindy, die kläglich schluchzte und ihre verstümmelte Hand an sich presste. Die Wunden hatte sie mit einem Teil ihrer Bluse umwickelt, der inzwischen völlig durchgeblutet war. Michael sah den Schmerz in ihrem Gesicht, die Hoffnungslosigkeit.
»Hier.« Iblis nahm eine der Fackeln von der Wand und reichte sie Michael. »Das schafft ein angenehmeres Ambiente.«
»Willst du es denn nicht als Erster sehen, du Hurensohn?«, wisperte Michael bebend vor Zorn.
»Jeder Bergmann hat seinen Kanarienvogel«, erwiderte Iblis.
Michael hörte, dass die beiden Wachhunde, die hinter ihm standen, ihre Waffen entsicherten.
»Silviu und Gianni werden dir auf den Fersen bleiben, damit du nicht auf die Idee kommst, da unten irgendeine krumme Tour abzuziehen.«
Michael blitzte Iblis zornig an, riss ihm die Fackel aus der Hand und trat durch die Tür.
54.
B usch und KC rannten aus der Höhle und durch den grünen Garten, vorüber an Bäumen und dampfenden Geysiren. Das Scharfschützengewehr hatte Busch sich auf den Rücken geschnallt, und beide hielten eine Pistole in der Hand. Die ganze Zeit behielten sie den gewaltigen Tempel im Auge.
Sie erreichten die Freitreppe, nahmen drei Stufen auf einmal und gelangten zu der riesigen schwarzen Tür, mussten aber feststellen, dass sie fest verschlossen war. Ohne ein Wort zu sagen, rannte KC über den vorderen Teil der Veranda und sprang neben der Außenecke des Gebäudes wieder auf den Boden. Dort drehte sie sich von links nach rechts und blickte dabei nach oben. Im nächsten Moment schwang sie sich wie eine Kunstturnerin auf das Geländer der Veranda, sprang nach oben und bekam die Dachrinne zu fassen, zog sich daran hoch und stand Sekunden später direkt unter den Fenstern des Tempels auf dem Dach der Veranda.
Busch folgte ihrem Beispiel, kletterte auf die Brüstung und war dankbar für seine eins fünfundneunzig Körpergröße, weil er sich nur recken musste, um die Dachrinne zu erreichen; er wusste, dass er nicht die geringste Chance gehabt hätte, wenn er so hoch hätte springen müssen wie KC. Er zog seinen massigen Körper auf das Dach und war froh, in den letzten Monaten so viel trainiert zu haben. Eine Blamage weniger.
Sie liefen über das Verandadach zum ersten Tempelfenster und stießen es auf. Das gewölbte Bläschenglas hing auf uralten Scharnieren, die weit und quietschend aufschwangen. KC hatte Mühe, sich hindurchzuzwängen, und für Busch war es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit; er verschrammte sich die Schultern und die Schenkel, als er seinen Körper durch die schmale Öffnung quetschte.
Sie fanden sich in einem kleinen Schlafraum wieder. Auf dem Fußboden lag eine Matratze, und an der gegenüberliegenden Wand stand ein Schreibpult. Der Raum duftete nach Weihrauch; die friedliche Atmosphäre erinnerte Busch an seine Kindheit, an die Augenblicke, da er eine Kirche betreten und das Chaos der Welt draußen hinter sich gelassen hatte.
»Zehn
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