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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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bereisen.
    »Halt das mal«, sagte Michael und reichte Silviu die Fackel. Dann griff er mit der Hand an den goldenen Türknauf und zog. Die Tür rührte sich keinen Millimeter, denn das Holz hatte sich durch die Hitze gedehnt, sodass es sich im Rahmen verkantete. Michael hob den rechten Fuß, drückte ihn gegen die Wand und stieß die Tür mit Gewalt auf.
    Mit starrem Blick schaute er in den Raum hinein. Das schwache Licht der Fackel ließ seinen Körper zu einem Schatten werden, der in der Finsternis tanzte. Zögernd trat er durch die Tür, blieb nach dem ersten Schritt aber gleich wieder stehen, damit seine Augen sich den veränderten Lichtverhältnissen anpassen konnten. Die Luft war trocken und roch im Gegensatz zur feuchten Höhle hinter ihm überhaupt nicht. Michael konnte Berge von Metall erkennen, das im Glanz des schwachen Lichts schimmerte. Überall auf dem Boden lagen uralte, zum Teil zerfallene menschliche Skelette. Kemal Reis’ Besatzung. Die Männer hatten entweder einander oder sich selbst getötet; ihre Überreste bedeckten den ganzen Boden. Sie hielten ihre Säbel immer noch fest in den Knochenhänden.
    Als Michael sich tiefer in die Dunkelheit vorwagte und der Mantel der Finsternis ihn schließlich umhüllte, hörte er die Stimmen. Zuerst waren sie leise und klangen wie das Murmeln einer Gruppe in der Ferne. Was die Stimmen sagten, war nicht zu verstehen. Dann aber wurden sie lauter und drängender.
    »Michael, erinnerst du dich an mich?« , wisperte eine von ihnen. »Vor vielen Jahren dachtest du, du könntest die Welt von mir befreien. Du hast mich begraben, hast mich versteckt in den Wäldern Deutschlands, aber mich kann man nicht vernichten.«
    Michael sehnte sich nach Licht, nach der Fackel, nach irgendetwas, was die Finsternis vertrieb. Er fühlte sich wie ein Kind, das sich vor dem fürchtet, was in der Dunkelheit lauert. Er spürte, wie Urängste in ihm aufstiegen. Zugleich erwachte ein Instinkt, der ihm riet, die Flucht zu ergreifen. Jetzt verstand Michael, was der Mönch gemeint hatte, als er ihm geraten hatte, sich nur ja immer im Licht zu halten, und warum er ihn gewarnt hatte vor der Macht der Finsternis.
    »Michael« , wimmerte eine andere Stimme. Michael schauderte; er hatte diese Stimme seit vielen Jahren nicht mehr gehört. Es war eine Stimme, die ihn früher stets hatte trösten können, aber jetzt klang sie verärgert und vorwurfsvoll.
    »Ich sterbe, und du gehst hin und ersetzt mich durch einen neuen Vater« , jammerte die Stimme seines Adoptivvaters Alec St. Pierre. »Du zerstörst die Erinnerungen an mich in der Hoffnung, dir bessere schaffen zu können. Mary ist gestorben, und jetzt begräbst du ihr Andenken, indem du sie ebenso ersetzt wie mich.«
    In diesem Moment erkannte Michael, dass die Stimmen nichts als Lügen von sich gaben. Sie machten sich seine Ängste zunutze; sie waren sein eigener unbewusster Schrei nach Erlösung von den Fesseln seiner Gedanken. Sie versuchten, seinen Verstand mit Schuldgefühlen und Scham zu verpesten und paranoide Gedanken zu säen, die ihm die Fähigkeit zu klarem Denken raubten. Doch so sehr er sich dagegen wehrte, die Stimmen wollten einfach nicht verstummen. Schließlich konzentrierte Michael sich auf das eine, das seinem Geist Frieden geben und sein inneres Gleichgewicht wiederherstellen konnte.
    Auf sein Herz.
    KC hatte es zu neuem Leben erweckt, indem sie ihm ihr eigenes Herz geschenkt hatte. Der Gedanke erfüllte Michael mit einem wohligen Gefühl der Wärme, mit dem er nun bewusst seinen Verstand und seine Seele durchflutete, um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Vor seinem geistigen Auge ließ er KCs Bild erstehen, hielt sich fest am Glanz ihrer langen blonden Haare, an ihren Augen, den Spiegeln ihrer reinen Seele. Er stellte sich ihre glatte weiche Haut vor, und wie sie einander umarmten, wie sie einander liebten und zärtlich berührten.
    Trotzdem wurden die Stimmen immer lauter und klangen fast schon wie die Schreie von Kreaturen, die es darauf abgesehen hatten, Michael in den Wahnsinn zu treiben. Mit aller Kraft stellte er sich KCs Gesicht vor und hielt sich ganz fest daran. Dann griff er in die Hosentasche und legte die Finger um den Anhänger, den KC ihm zusammen mit dem Brief zurückgegeben hatte. Er hielt ihn ganz fest, während er sich rückwärts aus dem Raum bewegte, sich von den umhertanzenden Schatten entfernte und zurückkehrte ins Licht. Michael zwang sich, nur an KC zu denken und vor seinem geistigen Auge nichts

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