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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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Einsturz.
    Unvermittelt stieß Silviu einen keuchenden Laut aus. Hastig drehte Michael sich um und sah, wie der Hüne vor irgendetwas zurückwich, das einen flackernden Schatten an die Wand warf. Michael ging darauf zu, wobei er unbewusst die Luft anhielt.
    Auf dem Boden lag ein Skelett; der Kopf war weit nach hinten gekippt, der Kiefer weit aufgerissen wie im Todesschrei. Aus der linken Augenhöhle ragte der Griff eines Messers, den die knöcherne Hand des Toten fest umklammert hielt. Dieser Mensch, wer immer er gewesen war, hatte sich auf die grauenvollste Art selbst getötet, die man sich vorstellen kann. Michael beugte sich über die Leiche und stellte erstaunt fest, dass sie auf einer zerfetzten Lederdecke lag. Michael griff nach der Decke, und erst als er sie berührte, wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Es war keine Decke, und sie war erst recht nicht aus Leder, Wolle oder Stoff. Es war menschliche Haut. Dem Toten war die Haut vom Körper gefallen.
    Michael untersuchte die Leiche genauer. Aufgrund der Hitze in der Höhle hätte der natürliche Verfall so schnell vonstatten gehen müssen, dass gar keine sterblichen Überreste mehr hätten existieren dürfen. Nach Einsetzen des Verwesungsprozesses hätten Insekten und Ungeziefer die Leiche vollkommen vernichten müssen. In dieser warmen, feuchten Umgebung hätte schon nach wenigen Tagen nichts mehr übrig sein dürfen. Aber das Skelett war Hunderte von Jahren alt. Es war bekleidet mit einem schmutzigen Baumwollhemd. Die zerrissene, um die Gebeine schlotternde graue Hose war aus dickem Wollmaterial, das nach so langer Zeit auch schon längst hätte zerfallen sein müssen.
    Michael erkannte, dass er auf einen von Kemal Reis’ Männern schaute, auf einen Korsaren – einen Seemann, der von seiner Heimat gar nicht weiter entfernt hätte sein können. Dieser Mann war seinem Admiral bis zum letzten Atemzug treu ergeben gewesen.
    Michael erkannte außerdem, dass es hier unten kein Leben gab, nicht einmal Ungeziefer oder Insekten, die die Verwesung vorangetrieben hätten. Selbst tief in der Erde gab es Bakterien, Ameisen, Würmer und Käfer, und normalerweise hätten sie sich an dem Leichnam gütlich getan. Hier jedoch schien kein Leben zu existieren.
    Als Michael sich erhob, sah er, dass Gianni mit seiner Taschenlampe auf weitere Skelette leuchtete. Einige hatten sich selbst erstochen und umklammerten ihre Schwerter wie Samurai, die Seppuku begangen hatten. Andere hielten altertümliche Flinten in den Händen, mit denen sie sich erschossen hatten.
    »Warum haben die sich das Leben genommen?«, stieß Silviu in einem Englisch hervor, das von einem starken Akzent gefärbt war.
    »Das sind türkische Korsaren«, erwiderte Michael. »Sie zählten zu den härtesten Männern, die es je gegeben hat. Sie waren Piraten, die keine Angst hatten, sich ihren Dämonen zu stellen. Und trotzdem, hier unten …« Michael sprach bewusst nicht weiter und schaute auf die Leichen.
    »Was ist hier unten?«, fragte Silviu.
    »Hat Iblis euch das nicht erzählt?«
    »Er hat gesagt, hier wären Geld und Bücher«, meldete Gianni sich zu Wort.
    »Wirklich?« Michael konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Spricht einer von euch Arabisch?«
    »Um Himmels willen, ich bin Italiener! Warum stellen Sie so eine dumme Frage?«
    Silviu schüttelte bloß den Kopf.
    Michael setzte zu einer Antwort an.
    Im nächsten Moment hörte er die Stimme wieder. Diesmal war das Flüstern lauter und sandte ihm eisige Schauer über den Rücken und mitten ins Herz.
    »Was ist das?«, rief Silviu, drehte sich im Kreis und fuchtelte mit seiner Waffe.
    »Das ist die Stimme des Wahnsinns«, wisperte Michael. »Die Stimme des Bösen.«
    Sein Blick fiel auf die Steinwand, die sich hinter der Treppe befand, auf der sie hier heruntergekommen waren. Dort war eine Tür, eine große Holztür. Sie war schwarz wie die Nacht, aus glänzendem Ebenholz gefertigt, das im Fackellicht schimmerte. Eisenverstrebungen verstärkten sie am unteren und oberen Rand sowie in der Mitte. Der Türrahmen und die Türschlitze waren mit Pech versiegelt. Diese schwarze, teerartige Substanz diente nicht nur als Brennstoff für die Fackeln, sondern war auch der erste Feuchtigkeitsschutz gewesen, den man bei Schiffen und Fässern benutzt hatte, um Fugen wasserdicht zu machen. Das Pech wurde durch Pyrolyse hergestellt, die trockene Destillation von Holz und Harz, und es erlaubte den ersten Seefahrern der Geschichte, die Weltmeere zu

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