Der Dieb der Finsternis
war in keiner Hinsicht wie sein Vater. Sein Vater war ein guter Mensch gewesen und hatte viel für sein Reich und sein Volk getan. Selim jedoch hielt sich immer nur im Harem auf, war ständig betrunken und verschwendete keinen Gedanken an seine Untertanen, das Reich oder die Welt. Er war ein egoistischer Säufer, der sich aufführte wie ein ägyptischer Pharao, obwohl er sich weigerte, die Uräusschlange der Pharaonen zu tragen, die sogenannte Stirnschlange, eine sich emporreckende, Gift sprühende Kobra. Bei einem Besuch in Mehmets Haus sah Selim den Stab und ließ ihn mitgehen, weil er fasziniert war von der aufwendigen Schlangendarstellung. Er trug den Hermesstab wie ein Zepter als Symbol für seine Macht und hielt jedem die zwei Schlangenköpfe als Warnung unter die Nase.
Mehmet galt als einer der größten Wesire, die das Reich je hervorgebracht hat. Er war unter Süleyman Großwesir gewesen und behielt das Amt unter Selim. Er regierte das Reich genau so weiter, wie Süleyman es getan hatte, und galt als brillanter Kopf auf den Gebieten der Politik und der Kriegführung – ein Mann, der vorausdenken konnte, viel weiter als andere. Was den Hermesstab anging, musste er das Versprechen halten, das er seinem Freund Piri gegeben hatte. Er wusste, dass er ihn zurückbekommen und entsorgen konnte, er musste lediglich auf den rechten Augenblick warten.«
»Welche Bedeutung hat der Stab denn für Simon? Warum will er ihn so unbedingt haben?«, fragte Busch.
»Das hat er mir nie gesagt.«
»Das interessiert jetzt auch nicht«, warf Michael ein. »Was ist mit dem Stab passiert?«
»Mehmet hat mehr als einmal versucht, den Sultan dazu zu bringen, sich davon zu trennen. Er hat ihm Geschichten erzählt, nach denen der Stab mit einem Fluch behaftet war und Schmerz und Leid brachte und dass es unter seiner Würde sei, wie ein geckenhafter westeuropäischer Herrscher ein Zepter zu schwingen. Aber der ständig betrunkene Sultan hat seinem obersten Berater kaum zugehört. Mehmets Worte stießen auf taube Ohren.
Als Selim starb, wurde Mehmet bewusst, dass er mit Hilfe des Sultans in der Lage war, Piris Wunsch zu erfüllen. Als Großwesir war Mehmet verantwortlich für das Begräbnis des Sultans, und so ließ er ein Grabmal für den Sultan errichten, an dem drei Jahre lang gebaut wurde.«
»Willst du damit sagen …« Busch hoffte, dass er nicht die Antwort bekam, die er fürchtete.
»Der Stab wurde zusammen mit dem Leichnam von Sultan Selim II. begraben.«
»Moment mal. Damit ich es richtig verstehe: Du erzählst hier diese lange Geschichte, nur um mir zu sagen, dass wir ein Grab plündern müssen?«, fragte Busch. »Ich weiß nicht, wie ihr dazu steht, aber ich habe Probleme, den Frieden der Toten zu stören.«
»Wo ist das Grab?«, fragte Michael, ohne auf Buschs Einwand einzugehen.
»Es ist ein Grabmal«, erwiderte KC, stand auf, ging zur Tür des Hotelzimmers, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Was ist, kommt ihr?«
Michael und Busch folgten ihr nach draußen. Sie gingen zu KCs Suite und folgten ihr durchs Wohnzimmer auf den Balkon.
Die drei blickten auf die Altstadt, die sich vor ihnen ausbreitete, auf den Topkapi-Palast und die angrenzenden Stadtbezirke, in denen sich die Einheimischen und die Touristen tummelten. Schließlich schauten sie auf das gewaltige Gebäude zu ihrer Linken, das aus dem byzantinischen Zeitalter stammte. Seine zentrale Kuppel erhob sich fünfzig Meter in den Himmel und war im oberen Teil durchzogen von Hunderten bogenförmiger Fenster. Drei kleinere Kuppeln standen davor. Auf den ersten Blick sah das Ganze wie eine riesige Kirche aus, aber die vier jeweils sechzig Meter hohen Minarette an den vier Ecken ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Moschee handelte – eine der großartigsten der Welt.
»Willst du mich veräppeln?«, schimpfte Busch. »Das Grabmal ist da drin?«
»Nein.« KC zeigte auf die drei kleinen Kuppelgebäude, die südöstlich vom Hauptbau standen. »Selims Grabmal ist in einem separaten Gebäude untergebracht – dem in der Mitte.«
14.
V enue rührte in seinem Tee, der aus einer Mischung zubereitet war, die man speziell für ihn zusammenstellte. Der Duft von Mandeln und Honig erfüllte die Luft. Hier waren keine Dienstboten, keine Sekretärinnen, weder Angestellte noch Buchhalter.
Das Stadthaus auf der Amsterdamer Prinzengracht war ein schmuckes Gebäude aus Backstein. Dass Venue der Eigentümer war, ließ sich dank eines Labyrinths aus
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