Der Dieb der Finsternis
Meer, das ein erfolgreicher Steuerberater der Kirche gespendet hatte. Sein Name war Miles O’Banion gewesen; zwei Jahre zuvor war er kinderlos verstorben.
Das getünchte Haus war in den späten Fünfzigerjahren erbaut worden und hatte das Heim einer großen Familie werden sollen. Aus jedem der sechs Schlafzimmer hatte man einen Blick über den Ärmelkanal. Doch O’Banions Ehefrau war im Kindbett gestorben. Er hatte nie wieder geheiratet und sein ganzes Leben seiner Arbeit gewidmet, der Kirche und Gott. Damals war das Haus, dessen Einrichtung aus antiken englischen Möbeln bestand und dessen Wände und Fußböden aus schwarzem Nussbaum waren, in den Sommermonaten ein Ort gewesen, an dem ständig Partys und Feste gefeiert wurden. Dann tummelten sich die Gäste auf den breiten Veranden, die das Haus umschlossen. Die heitere Stimmung währte stets vom Maifeiertag bis zum 1. September, und auf der Gästeliste stand jedes örtliche Gemeindemitglied, ob Freund oder Feind.
Doch seit O’Banions Tod war es ruhig im Haus geworden. Jetzt wurde nicht mehr gefeiert, und statt Lachen waren leise Gebete zu vernehmen.
Oswyn fand Gefallen an dem Reiz, den das Meer im Winter ausübte, an dem dramatischen Unterschied zwischen Ebbe und Flut und an den gewaltigen Wellen, die mit rhythmischem Donnern auf den Strand schlugen und ihn in den Schlaf wiegten.
Während die meisten Menschen inzwischen auf der Suche nach Wärme und Leben aus dem Küstenörtchen in die Stadt geflüchtet waren, entfachte Oswyn ein knisterndes Feuer im steinernen Kamin, nahm sich den neuesten Roman von Stephen King vor und genoss, dass er endlich seine Ruhe hatte. Seit zwei Wochen versuchte er nun schon, das Buch zu Ende zu lesen, war aber immer wieder unterbrochen worden. Jetzt, da er im O’Banion-Haus eingetroffen war, würde er endlich durch die letzten beiden Kapitel kommen und dann mit dem Roman von Robert Masello beginnen, von dem seine Schwester so geschwärmt hatte.
Es war eine mondlose Nacht, und im Haus war es dunkel und still, als Oswyn sich neben dem Feuer in einen großen Ohrensessel setzte und die Stehlampe einschaltete, die direkt daneben stand. Er drehte seinen Körper in Richtung der Flammen, horchte auf das Krachen der Brandung in der Ferne, schlug das Buch auf und lehnte sich zurück.
Den Mann, der sich ihm aus der Dunkelheit näherte, sah er nicht – den Mann, der zwei Stunden im Schutz der Dunkelheit auf ihn gewartet hatte.
Eine starke Hand griff in Oswyns Haar und drückte seinen Körper mit Gewalt im Sessel nach vorn. Schlagartig verlor der Körper des Priesters jedes Gefühl. Seine Arme fielen an den Seiten herunter; das Buch prallte auf den Fußboden. Oswyns Kopf knickte in einem unnatürlichen Winkel nach vorn, sodass sein Kinn auf der Brust lag.
Er hatte die dünne Klinge gar nicht gespürt, die in seinen Nacken eingedrungen war und unter dem obersten Halswirbel den Rückenmarkskanal durchtrennt hatte. Da das Nervensystem nicht mehr funktionierte, versagte sein Zwerchfell, und die Atmung setzte aus. Als ihm die letzte Luft aus der Lunge strömte, brachte er noch die Kraft auf, sich auf seinen Glauben zu besinnen und reuevoll zu beten.
Der Erstickungstod kam langsam. Obwohl sein Körper nichts mehr spürte, fühlte sein Kopf sich an, als würde er jeden Moment platzen. Dunkelheit schob sich in sein Sichtfeld; weiße Lichtpunkte, die wie Sternschnuppen aussahen, huschten durch die Schwärze.
Francis Oswyns letzter Gedanke galt nicht seiner Schwester oder seinen schon vor langer Zeit verstorbenen Eltern, ebenso wenig seiner Kirche oder seinen Freunden. Nein, sein letzter Gedanke galt der Tatsache, dass er nun niemals dahinterkommen würde, wie dieser verdammte Roman von Stephen King endete.
***
Drei Monate später waren auch die sechs anderen Priester tot, die auf Venues Liste gestanden hatten. Es gab keine Spuren, keine Fingerabdrücke, keine Zeugen. Die Behörden fanden an keinem Tatort Indizien. In ganz Europa verbreitete sich das Gerücht, ein Serienmörder habe es auf Priester abgesehen. Es gab jede Menge Theorien – angefangen vom Vergeltungsschlag der Protestanten bis hin zum Einschreiten des Teufels höchstpersönlich. Aber nach sieben Opfern hörten die Morde plötzlich auf, und so wurden die Ermittlungen schließlich eingestellt.
***
Iblis saß in Venues brandneuem Büro in Amsterdam, das im vierten Stock lag und einen Ausblick auf die Keizersgracht bot. Das Unternehmen und das Ansehen des großen glatzköpfigen
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