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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Bekanntmachung? «
    » Sei nicht dämlich. Sie haben dich inzwischen ziemlich gern– Mutter vor allem. Aber Daddy auch. Ich glaube, sie wollen dich vielleicht behalten. «
    XVII
    Ich fuhr ein bisschen schläfrig mit dem Bus hinauf nach Uptown, schwankte behaglich vor und zurück und sah zu, wie die nassen, samstäglichen Straßen vorüberhuschten. Als ich– durchfroren von meinem Fußweg durch den Regen– in die Wohnung trat, kam Kitsey in den Flur gerannt und starrte mich an, mit wildem, fasziniertem Blick, als wäre ich ein Vogel Strauß, der sich dorthin verirrt hatte. Einen sprachlosen Moment später rannte sie ins Wohnzimmer, und ihre Sandalen klapperten auf dem Parkettboden. » Mum? « , schrie sie. » Er ist hier! «
    Mrs. Barbour erschien. » Hallo, Theo « , sagte sie. Sie war völlig gefasst, aber in ihrer Art lag eine gewisse Zurückhaltung, auch wenn ich sie nicht genau hätte beschreiben können. » Komm herein. Ich habe eine Überraschung für dich. «
    Ich folgte ihr in Mr. Barbours Arbeitszimmer. Dort war es an diesem bewölkten Nachmittag düster, und die gerahmten Seekarten und der Regen, der an den grauen Fensterscheiben herunterlief, ließen das Zimmer aussehen wie eine Theaterkulisse, die eine Schiffskajüte auf sturmgepeitschter See darstellte. Am anderen Ende erhob sich jemand aus einem ledernen Clubsessel. » Hey, Buddy « , sagte er. » Lange nicht gesehen. «
    Ich blieb starr in der Tür stehen. Die Stimme war unverwechselbar: mein Vater.
    Er trat in das matte Licht, das durch das Fenster hereinfiel. Er war es wirklich, aber er hatte sich verändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte– dicker, sonnengebräunt, aufgedunsen. Er trug einen neuen Anzug, und sein Haarschnitt ließ ihn aussehen wie ein Barkeeper in einem Downtown-Lokal. Bestürzt sah ich mich nach Mrs. Barbour um, und ihr strahlendes, aber hilfloses Lächeln sagte: Ich weiß, aber was kann ich machen?
    Während ich noch sprachlos vor Entsetzen dastand, erhob sich eine zweite Gestalt und drängte sich vor meinen Vater. » Hi, ich bin Xandra « , sagte eine kehlige Stimme.
    Ich sah mich einer fremden Frau gegenüber, sonnenbraun und sehr fit: flache graue Augen, eine kupferfarbene Lederhaut, Zähne, die einwärts gestellt waren und eine breite Lücke hatten. Sie war zwar älter als meine Mutter– zumindest sah sie älter aus–, aber gekleidet war sie wie eine junge Frau: rote Plateau-Sandalen, tief sitzende Jeans mit breitem Gürtel und jede Menge Goldschmuck. Ihr Haar hatte die Farbe von karamellbraunem Stroh, und es war sehr glatt und an den Enden ausgefranst. Sie kaute ein Kaugummi und verströmte einen starken Geruch von Juicy Fruit.
    » Xandra mit X « , erklärte sie mit einem knirschenden Unterton. Ihre klaren, farblosen Augen waren von dornig spitzen Lidstrichen umgeben, und ihr Blick war kraftvoll, selbstbewusst und unbeirrt. » Nicht Sandra. Und weiß Gott nicht Sandy. Das höre ich oft, und es bringt mich auf die Palme. «
    Während sie redete, nahm mein Erstaunen von Sekunde zu Sekunde zu. Ich konnte sie nicht restlos erfassen: die Whiskeystimme, die muskulösen Arme, das chinesische Schriftzeichen, das auf ihren großen Zeh tätowiert war, die langen, eckigen Fingernägel mit den aufgemalten weißen Spitzen und die Ohrringe, die aussahen wie Seesterne.
    » Äh, wir sind erst vor ungefähr zwei Stunden in La Guardia gelandet. « Mein Dad räusperte sich, als sei mit diesem Satz alles erklärt.
    War das etwa der Grund, weshalb mein Dad uns verlassen hatte? Wie betäubt drehte ich mich noch einmal zu Mrs. Barbour um, aber sie war verschwunden.
    » Theo, ich bin jetzt draußen in Las Vegas « , sagte mein Vater und schaute über meinen Kopf hinweg auf die Wand. Er hatte immer noch die beherrschte, selbstbewusste Stimme seiner Schauspielerausbildung. Aber obwohl er so bestimmt wie eh und je klang, sah ich ihm an, dass ihm nicht weniger unbehaglich war als mir. » Ich schätze, ich hätte wohl anrufen sollen, aber ich dachte, es wäre einfacher, wenn wir einfach rauskommen und dich abholen. «
    » Mich abholen? « , wiederholte ich nach einer langen Pause.
    » Sag’s ihm, Larry « , drängte Xandra und wandte sich dann an mich. » Du solltest stolz sein auf deinen Paps. Er hat die Kurve gekriegt. Seit wie vielen Tagen nüchtern jetzt? Einundfünfzig? Und er hat alles allein geschafft– hat sich nicht mal einweisen lassen, sondern auf dem Sofa entgiftet, mit einem Korb Ostersüßigkeiten und einem Röhrchen

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