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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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verwöhnt « ), von ihrem schlechten Truthahn-Sandwich im Flugzeug und von der Stewardess, die » vergessen « hatte (Xandra fügte die Anführungsstriche mit den Fingerspitzen manuell ein), ihr die fünf Dollar Wechselgeld für den Wein zu bringen, den sie bestellt hatte.
    » Oh, Ma’am! « , sagte José, als er in den Flur hinaustrat, und wackelte auf seine gespielt ernste Art mit dem Kopf. » Flugzeugessen, das ist das Schlimmste. Und heutzutage haben Sie Glück, wenn Sie überhaupt was zu essen kriegen. Aber in New York kann ich Ihnen eins sagen. Sie werden gutes Essen finden. Gibt gute Vietnamesen, gute Kubaner, gute Inder… «
    » Ich mag das scharfe Zeug nicht… «
    » Ist alles gut, egal, was Sie wollen: Wir haben es. Segundito. « Er hielt einen Finger in die Höhe und tastete an seinem Schlüsselbund nach dem Schlüssel.
    Das Schloss öffnete sich mit einem soliden Metallklang, der sich bis tief ins Blut richtig anfühlte. Drinnen war es stickig und ungelüftet, und doch warf der heftige Geruch von Zuhause mich beinahe um: Bücher und alte Teppiche und Fußbodenreiniger mit Zitrone und der dunkle Myrrheduft der Kerzen, die sie bei Barney’s kaufte.
    Die Tasche aus dem Museum stand auf dem Boden und lehnte am Sofa, genau da, wo ich sie zurückgelassen hatte– vor wie vielen Wochen? Mit schwirrte der Kopf, als ich um José herum in die Wohnung flitzte, um sie mir zu schnappen, während José– der meinem gereizten Vater den Weg versperrte, ohne dass es nach Absicht aussah– mit verschränkten Armen draußen stehen blieb und Xandra zuhörte. Sein gelassener, aber auch leicht geistesabwesender Gesichtsausdruck erinnerte mich daran, wie er ausgesehen hatte, als er meinen Dad einmal an einem frostkalten Abend praktisch die Treppe hatte hinauftragen müssen, weil mein Dad so betrunken war, dass er seinen Mantel verloren hatte. » Kommt in den besten Familien vor « , hatte er mit einem unverbindlichen Lächeln gesagt und den Zwanzig-Dollar-Schein zurückgewiesen, den mein Vater– mit bekotztem Jackett, verschrammt und dreckig, als hätte er sich auf dem Gehweg gewälzt– ihm verbissen vors Gesicht hielt.
    » Tatsächlich komme ich ja von der Ostküste « , sagte Xandra eben. » Aus Florida? « Wieder das nervöse Lachen– stotternd, stockend. » West Palm, genau gesagt. «
    » Florida, sagen Sie? « , hörte ich José fragen. » Ist schön da unten. «
    » Yeah, es ist super. In Vegas haben wir wenigstens Sonne. Ich weiß nicht, ob ich die Winter hier drüben aushalten könnte. Ich würde zu einem Eis am Stiel… «
    Ich hob die Tasche auf und merkte im selben Augenblick, dass sie zu leicht war, fast, als wäre sie leer. Wo zum Teufel war das Bild? Ich war fast blind vor Panik, aber ich blieb nicht stehen, sondern lief weiter, durch den Korridor und wie auf Autopilot nach hinten zu meinem Zimmer, und meine Gedanken kreiselten knirschend umeinander.
    Plötzlich, inmitten meiner zusammenhanglosen Erinnerungen an jenen Abend, fiel es mir wieder ein. Die Tasche war nass geworden. Ich hatte das Bild nicht in einer nassen Tasche lassen wollen, wo es vielleicht schimmeln oder sich auflösen würde– oder was sonst passieren konnte. Also hatte ich es– wie konnte ich das nur vergessen?– auf den Sekretär meiner Mutter gestellt, sodass es das Erste war, was sie sehen würde, wenn sie nach Hause käme. Schnell und ohne zu bremsen, ließ ich die Tasche im Korridor vor meiner geschlossenen Zimmertür fallen und bog ins Zimmer meiner Mutter ab. Mir war schwindlig vor Angst, und ich hoffte nur, mein Vater würde mir nicht nachkommen, aber ich wagte nicht, mich nach ihm umzudrehen.
    Im Wohnzimmer hörte ich Xandra sagen: » Ich wette, ihr seht hier eine Menge Promis auf der Straße, hm? «
    » O ja. LeBron, Dan Aykroyd, Tara Reid, Jay-Z, Madonna… «
    Im Zimmer meiner Mutter war es dunkel und kühl, und der zarte, kaum wahrnehmbare Hauch ihres Parfüms war fast mehr, als ich ertragen konnte. Da stand das Bild, aufrecht zwischen silbergerahmten Fotos: Chalkboard, die Stute ihres Vaters, Bruno, die Deutsche Dogge, ihr Dackel Poppy, der starb, als ich im Kindergarten war. Ich musste mich zusammenreißen, als ich ihre Lesebrille auf dem Sekretär liegen sah, ihre steife schwarze Strumpfhose, die sie zum Trocknen über die Stuhllehne gehängt hatte, ihre Handschrift auf dem Schreibtischkalender und eine Million andere herzzerreißende Kleinigkeiten. Ich nahm das Bild, klemmte es unter den Arm und ging eilig in mein

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