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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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den Türrahmen und sah mich durchtrieben an. » Als ich weggegangen bin? Ich musste Geld von unserem Konto abheben, um Steuern zu bezahlen, und da ist sie an die Decke gegangen, als ob ich es gestohlen hätte. « Er beobachtete mich sehr aufmerksam, um zu sehen, wie ich reagierte. » Von unserem gemeinsamen Bankkonto. Ich meine, im Prinzip hat sie mir unterm Strich einfach nicht vertraut. Ihrem eigenen Ehemann. «
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Von diesen Steuern hörte ich zum ersten Mal, aber es war keineswegs ein Geheimnis, dass meine Mutter meinem Dad in Geldsachen nicht vertraut hatte.
    » Gott, aber sie konnte so nachtragend sein. « Er zog halb scherzhaft den Kopf zwischen die Schultern und fuhr sich mit der Hand von oben nach unten über das Gesicht. » Wie du mir, so ich dir. Immer darauf aus, dir was heimzuzahlen. Jetzt mal im Ernst– sie hat nie was vergessen. Und wenn sie zwanzig Jahre warten musste, sie hat sich revanchiert. Klar, ich bin immer derjenige, der aussieht wie der Schurke, und vielleicht bin ich ja auch der Schurke… «
    Das Bild, so klein es auch war, wog langsam Tonnen, und mein Gesicht war starr von der Anstrengung, die es mich kostete, mein Unbehagen zu verbergen. Um seine Stimme auszublenden, fing ich an, im Stillen auf Spanisch zu zählen. Uno dos tres, cuatro cinco seis …
    Als ich bei neunundzwanzig ankam, war Xandra wieder da.
    » Larry « , sagte sie, » du und deine Frau, ihr hattet es hier richtig nett. « Ich hörte, wie sie es sagte, und bekam Mitleid mit ihr, ohne dass sie mir sympathischer wurde.
    Mein Dad legte ihr den Arm um die Taille und zog sie an sich. Es war eine Art knetende Bewegung, bei deren Anblick mir übel wurde. » Na ja « , sagte er bescheiden, » eigentlich ist es mehr ihre Wohnung als meine. «
    Das kannst du laut sagen, dachte ich.
    » Komm hier rein. « Mein Dad nahm sie bei der Hand und führte sie hinüber zum Zimmer meiner Mutter. Ich war plötzlich vergessen. » Ich will dir was zeigen. « Ich drehte mich um und sah ihnen nach, und mir wurde flau bei dem Gedanken daran, wie Xandra und mein Vater die Sachen meiner Mutter durchwühlten, aber ich war so froh, sie gehen zu sehen, dass ich es ertrug.
    Ohne die offene Tür aus dem Auge zu lassen, ging ich um mein Bett herum und legte das Bild dorthin, wo es nicht zu sehen war. Auf dem Boden lag eine alte New York Post; es war die Zeitung, die sie an unserem letzten gemeinsamen Samstag scherzhaft zu mir hereingeworfen hatte. Hier, Kleiner, hatte sie gesagt und den Kopf zur Tür hereingesteckt, such uns einen Film aus. Es gab mehrere Filme, die wir gern gesehen hätten, aber ich suchte eine Matinee beim Boris Karloff Film Festival aus: Body Snatchers – Angriff der Körperfresser. Sie hatte meine Wahl klaglos akzeptiert; wir waren zum Film Forum hinuntergefahren, hatten uns den Film angesehen und waren danach noch in das Moondance Diner gegangen, um einen Hamburger zu essen. Ein absolut angenehmer Samstagnachmittag, abgesehen von der Tatsache, dass es ihr letzter auf Erden gewesen war, und jetzt war mir miserabel zumute, wenn ich daran dachte, denn (dank mir) war der letzte Film, den sie gesehen hatte, ein kitschiger alter Horrorstreifen über Leichen und Grabräuber gewesen. (Wenn ich den Film genommen hätte, den sie gern gesehen hätte– den mit den guten Kritiken über Pariser Kinder im Ersten Weltkrieg–, wäre sie dann irgendwie am Leben geblieben? Meine Gedanken wanderten oft an solchen dunklen, abergläubischen Verwerfungen entlang.)
    Obwohl die Zeitung mir sakrosankt erschien, wie ein historisches Dokument, schlug ich sie in der Mitte auf und riss sie entzwei. Grimmig wickelte ich Blatt für Blatt um das Bild und verklebte das Paket mit derselben Klebstreifenrolle, die ich ein paar Monate zuvor benutzt hatte, um das Weihnachtsgeschenk für meine Mutter einzupacken. Perfekt!, hatte sie in einem Wirbelsturm aus buntem Papier gerufen und sich im Bademantel herübergebeugt, um mich zu küssen: ein Aquarellfarbkasten, mit dem sie jetzt nie in den Park gehen würde, an all den Sonntagvormittagen in Sommern, die sie nie sehen würde.
    Mein Bett– ein Messingfeldbett vom Flohmarkt, soldatisch und beruhigend– war mir immer als der sicherste Ort auf der Welt vorgekommen, um etwas zu verstecken. Aber als ich mich jetzt umsah (der verschrammte Schreibtisch, das japanische Godzilla-Plakat, der Pinguinbecher aus dem Zoo, in dem meine Stifte standen), überkam mich die Vergänglichkeit des Ganzen

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