Der Distelfink
mit aller Macht, und mir wurde schwindlig bei der Vorstellung, wie alle unsere Sachen aus der Wohnung flogen, die Möbel, das Silber und die ganze Garderobe meiner Mutter: Kleider aus dem Musterverkauf, an denen noch die Etiketten hingen, all die bunten Ballerinas und die maßgeschneiderten Blusen mit ihren Initialen auf den Manschetten. Sessel und chinesische Lampen, alte Jazzplatten aus Vinyl, die sie unten im Village gekauft hatte, Gläser mit Marmelade und Oliven und scharfem deutschen Senf im Kühlschrank. Im Bad eine verwirrende Sammlung von parfümierten Ölen und Feuchtigkeitscremes, bunten Schaumbädern, halb leeren Flaschen von überteuertem Shampoo, die sich auf der einen Seite der Wanne drängten (Kiehl’s, Klorane, Kérastase– meine Mutter hatte immer fünf oder sechs davon gleichzeitig in Benutzung). Wie hatte diese Wohnung so dauerhaft und solide aussehen können, wenn sie doch nur eine Bühnenkulisse war, die darauf wartete, von Möbelpackern in Uniform abgebaut und weggeschleppt zu werden?
Als ich ins Wohnzimmer kam, erwartete mich die Strickjacke, die immer noch auf der Sessellehne lag, wo sie sie hingelegt hatte: ein himmelblauer Geist meiner Mutter. Muscheln, die wir am Strand bei Wellfleet gesammelt hatten. Hyazinthen, die sie ein paar Tage vor ihrem Tod im koreanischen Laden gekauft hatte und deren Stiele jetzt totenschwarz und verrottet über den Rand des Blumentopfs drapiert herabhingen. Im Papierkorb: Kataloge von Dover Books und für belgische Schuhe, das äußere Papier von einer Packung Necco Wafers, ihrer Lieblingssüßigkeit. Ich nahm es heraus und schnupperte daran. Ich wusste, die Strickjacke würde auch nach ihr riechen, wenn ich sie nähme und ans Gesicht drückte. Aber schon der Anblick war unerträglich.
Ich ging zurück in mein Zimmer, kletterte auf meinen Schreibtischstuhl, holte meinen Koffer herunter– weich und nicht zu groß– und packte ihn voll mit sauberer Unterwäsche, sauberem Schulzeug und gefalteten Hemden, frisch aus der Wäscherei. Dann legte ich das Bild hinein und deckte es mit einer weiteren Schicht Kleider zu.
Ich zog den Reißverschluss zu– ein Schloss gab es nicht, aber der Koffer war sowieso nur aus Segeltuch– und blieb ganz still stehen, bevor ich in den Korridor hinaustrat. Ich hörte, wie im Zimmer meiner Mutter Schubladen geöffnet und geschlossen wurden. Ein Kichern.
» Dad « , sagte ich mit lauter Stimme, » ich gehe hinunter und unterhalte mich mit José. «
Es wurde totenstill.
» Unbedingt « , sagte mein Vater durch die geschlossene Tür und in unnatürlich herzlichem Ton.
Ich ging zurück in mein Zimmer, holte den Koffer und verließ damit die Wohnung. Die Tür ließ ich einen Spaltbreit offen, damit ich wieder hineinkonnte. Ich fuhr mit dem Aufzug nach unten, starrte in den Spiegel vor mir und bemühte mich angestrengt, nicht daran zu denken, wie Xandra mit ihren Pfoten im Zimmer meiner Mutter in ihren Sachen herumwühlte. Ob er sich schon mit ihr getroffen hatte, bevor er weggegangen war? Kam es ihm nicht wenigstens ein bisschen abartig vor, sie die Sachen meiner Mutter durchsuchen zu lassen?
Ich war auf dem Weg zur Haustür, wo José auf seinem Posten stand, als eine Stimme rief: » Warte mal! «
Ich drehte mich um und sah Goldie aus dem Postzimmer kommen.
» Theo, mein Gott, es tut mir leid « , sagte er. Unsicher standen wir einander einen Moment lang gegenüber, und dann schlang er in einer impulsiven Bewegung– was soll’ s, zum Teufel – die Arme um mich, so unbeholfen, dass es beinahe komisch aussah, und drückte mich an sich.
» Tut mir so leid « , wiederholte er kopfschüttelnd. » Mein Gott, was für eine Sache. « Seit seiner Scheidung arbeitete Goldie oft nachts und an Feiertagen. Dann stand er vor der Tür, hatte die Handschuhe ausgezogen und hielt eine unangezündete Zigarette zwischen den Fingern, während er auf die Straße hinausschaute. Meine Mutter hatte mich manchmal mit Kaffee und Donuts zu ihm hinuntergeschickt, wenn er allein im Flur stand und nur den leuchtenden Baum und eine elektrische Menora als Gesellschaft hatte, während er am Weihnachtsmorgen um fünf Uhr die Zeitungen sortierte. Jetzt erinnerte mich sein Gesichtsausdruck an diese toten Feiertagsmorgen, an seinen leeren Blick und sein aschgraues, unsicheres Gesicht in dem unbewachten Moment, bevor er mich sah und sein schönstes Lächeln aufsetzte: Hi, Kid.
» Ich habe so oft an dich und deine Mutter gedacht. « Er wischte sich über die
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