Der Distelfink
Rio und Innsbruck oder Cap d’Antibes verbrachten. Aber Boris stellte sie alle in den Schatten, wie ein alter Hochseekapitän. Er hatte ein Kamel geritten. Er hatte Witchetty-Maden gegessen, Kricket gespielt, Malaria gehabt und in der Ukraine auf der Straße gelebt ( » aber nur zwei Wochen « ). Er hatte allein eine Stange Dynamit gezündet und war in krokodilverseuchten australischen Flüssen geschwommen. Er hatte Tschechow auf Russisch gelesen und Autoren, von denen ich noch nie gehört hatte, auf Ukrainisch und Polnisch. Er hatte die mittwinterliche Dunkelheit in Russland überstanden, wo die Temperaturen unter minus vierzig Grad fielen: endlose Blizzards, Schnee und Glatteis, und als einzige Aufmunterung eine grüne Neonpalme, die vierundzwanzig Stunden am Tag vor der Provinzbar leuchtete, in die sein Vater gern zum Trinken hinging. Obwohl er nur ein Jahr älter als ich war– fünfzehn–, hatte er schon richtig Sex mit einem Mädchen gehabt, in Alaska. Er hatte sie auf dem Parkplatz eines Supermarkts um eine Zigarette angehauen, sie hatte ihn gefragt, ob er sich mit ihr ins Auto setzen wollte, und das war’s gewesen. ( » Aber weißt du was? « , fragte er und blies Rauch aus dem Mundwinkel. » Ich glaube nicht, dass es ihr besonders gefallen hat. «
» Dir denn? «
» Gott, ja. Obwohl, ich muss dir sagen, ich weiß, dass ich es nicht richtig gemacht habe. Ich glaube, war zu eng in dem Auto. « )
Jeden Tag fuhren wir mit dem Bus zusammen nach Hause. Am halbfertigen Gemeindezentrum am Rand von Desatoya Estates, wo die Türen mit Vorhängeschlössern gesichert waren und die Palmen tot und braun in ihren Kübeln standen, war ein verlassener Spielplatz, und dort holten wir uns Softdrinks und geschmolzene Schokoriegel aus dem schwindenden Bestand der Automaten, setzten uns auf die Schaukeln, rauchten und redeten. Seine schlechten Launen und finsteren Stimmungen, die häufig auftraten, wechselten sich mit ungesunden Heiterkeitsausbrüchen ab. Er war wild und düster, manchmal konnte er mich so sehr zum Lachen bringen, dass ich Seitenstiche bekam, und wir hatten immer so viel zu erzählen, dass wir oft die Zeit aus den Augen verloren und bis weit in die Dunkelheit hinein draußen sitzen blieben und redeten. In der Ukraine hatte er mitangesehen, wie einem Abgeordneten auf dem Weg zu seinem Auto in den Bauch geschossen wurde– rein zufällig, zwar nicht den Schützen, aber den breitschultrigen Mann in einem zu engen Mantel, der in Dunkelheit und Schnee auf die Knie fiel. Er erzählte mir von seiner winzigen Blechdachschule am Rande des Chippewa-Reservats in Alberta, sang mir polnische Kinderlieder vor ( » in Polen wir lernen als Hausaufgabe meistens ein Gedicht oder ein Lied auswendig, ein Gebet vielleicht, so was… « ), und er brachte mir das Fluchen auf Russisch bei ( » das ist der echte Mat – die Sprache der Gulags « ). Er erzählte mir auch, wie er in Indonesien von seinem Freund Bami, dem Koch, zum Islam bekehrt worden war: kein Schweinefleisch, Fasten im Ramadan und fünfmal am Tag in Richtung Mekka beten. » Aber ich bin kein Muslim mehr. « Er zog die Fußspitze durch den Staub. Wir lagen rücklings auf dem Karussell, und uns war schwindlig vom Kreiseln. » Hab ich vor einer Weile aufgegeben. «
» Warum? «
» Weil ich trinke. « (Das war das Understatement des Jahres. Boris trank Bier, wie andere Kids Pepsi tranken, und er fing praktisch in dem Augenblick an, als wir aus der Schule kamen.)
» Aber wen interessiert das? « , fragte ich. » Ich meine, wieso muss das jemand wissen? «
Er schnaubte ungeduldig. » Weil es unrecht ist, den Glauben zu bekennen, wenn man ihn nicht ordentlich befolgt. Respektlos gegen den Islam. «
» Trotzdem. › Boris von Arabien ‹ , das hat einen gewissen Klang. «
» Leck mich. «
» Nein, im Ernst. « Ich lachte und stemmte mich auf den Ellenbogen hoch. » Hast du wirklich an das alles geglaubt? «
» An was alles? «
» Du weißt schon. Allah und Muhammed. › Es gibt keinen Gott außer Gott ‹ …? «
» Nein « , sagte er ein bisschen wütend, » mein Islam war was Politisches. «
» Was, du meinst, wie beim Schuhbomber? «
Er lachte schnaufend. » Scheiße, nein. Außerdem, der Islam lehrt keine Gewalt. «
» Was dann? «
Er richtete sich auf dem Karussell auf, und sein Blick war wachsam. » Was meinst du damit, was dann? Was willst du damit sagen? «
» Bleib ruhig! Das war eine Frage. «
» Nämlich…? «
» Wenn du dich dazu bekehrt hast
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