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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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vor einem einfachen hellen Hintergrund, der zweigdünne Fuß an eine Stange gekettet.
    » Er war Rembrandts Schüler und Vermeers Lehrer « , sagte meine Mutter. » Und dieses eine kleine Bild ist im Grunde das Missing Link zwischen den beiden. Dieses klare, reine Tageslicht– daran sieht man, woher Vermeer die Beschaffenheit seines Lichts bezogen hat. Natürlich wusste ich als Kind nichts von dieser historischen Bedeutung, und sie interessierte mich auch nicht. Aber sie ist da. «
    Ich trat zurück, um besser sehen zu können. Das kleine Geschöpf erschien unvermittelt und sachlich, ohne jede Sentimentalität, und etwas an der adretten, kompakten Art, wie es in sich selbst steckte– seine helle Farbe, der wache, aufmerksame Blick–, ließ mich an Bilder denken, die ich gesehen hatte, die meine Mutter als kleines Mädchen zeigten: ein Fink mit dunkler Haube und festem Blick.
    » Es war eine berühmte Tragödie in der niederländischen Geschichte « , sagte meine Mutter. » Ein großer Teil der Stadt wurde zerstört. «
    » Wobei? «
    » In der Katastrophe von Delft. Bei der Fabritius ums Leben kam. Hast du gehört, wie die Lehrerin vorhin den Kindern davon erzählt hat? «
    Ich hatte es gehört. Da war ein Trio von gespenstischen Landschaftsbildern gewesen, von einem Maler namens Egbert van der Poel, verschiedene Ansichten der gleichen, glimmenden Ödnis: abgebrannte Hausruinen, eine Windmühle mit zerfetzten Segeln, kreisende Krähen am rauchverhangenen Himmel. Eine amtlich aussehende Lady mit lauter Stimme hatte einer Gruppe von Mittelschulkindern erklärt, dass im siebzehnten Jahrhundert in Delft eine Schießpulverfabrik explodiert und dass der Maler von der Zerstörung seiner Stadt so verfolgt und besessen gewesen war, dass er sie immer wieder gemalt hatte.
    » Egbert war Fabritius’ Nachbar, und nach der Pulverexplosion verlor er irgendwie den Verstand, aber Fabritius wurde getötet und sein Atelier zerstört. Zusammen mit fast allen seinen Bildern außer diesem hier. « Anscheinend wartete sie darauf, dass ich etwas sagte, aber als von mir nichts kam, fuhr sie fort. » Er war einer der größten Maler seiner Zeit, in einer der größten Epochen der Malerei. Sehr, sehr berühmt zu Lebzeiten. Aber es ist traurig, denn von seinen Bildern haben vielleicht nur fünf oder sechs überlebt, von seinem ganzen Werk. Der Rest ist verloren– alles, was er je gemalt hat. «
    Das Mädchen und der Großvater trödelten still neben uns herum und hörten meiner Mutter zu, was ein bisschen peinlich war. Ich schaute weg, und dann– weil ich nicht widerstehen konnte– schaute ich wieder hin. Sie standen sehr dicht neben uns, so nah, dass ich die Hand ausstrecken und sie hätte berühren können. Sie zupfte und klopfte am Ärmel des alten Mannes herum und zog an seinem Arm, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
    » Jedenfalls, wenn du mich fragst, ist dies das außergewöhnlichste Bild in der ganzen Ausstellung. Fabritius macht etwas deutlich, das er ganz allein entdeckt hat, das vor ihm kein Maler auf der ganzen Welt wusste, nicht einmal Rembrandt. «
    Sehr leise– so leise, dass ich es kaum hören konnte– flüsterte das Mädchen: » Er musste sein ganzes Leben lang so leben? «
    Das hatte ich mich auch schon gefragt. Der gefesselte Fuß, die Kette, das war schrecklich. Ihr Großvater murmelte irgendetwas zur Antwort, aber meine Mutter (die sie anscheinend überhaupt nicht bemerkte, obwohl sie direkt neben uns standen) trat zurück und sagte: » Ein so geheimnisvolles, so einfaches Bild. Ganz zart– es lädt dich ein näher zu treten, nicht wahr? All die toten Fasane dahinten, und dann dieses kleine, lebende Geschöpf. «
    Ich gestattete mir noch einen verstohlenen Blick zu dem Mädchen hinüber. Sie stand auf einem Bein und hatte die Hüfte nach außen geschwenkt. Dann– ganz plötzlich– drehte sie sich um und sah mir in die Augen. Mein Herz setzte verwirrt einmal aus, und ich schaute weg.
    Wie hieß sie? Warum war sie nicht in der Schule? Ich hatte versucht, den gekritzelten Namen auf dem Flötenkoffer zu lesen, aber obwohl ich mich so weit hinüberbeugte, wie ich es ohne aufzufallen wagen konnte, gelang es mir nicht, die Marker-Striche zu entziffern, dick und gezackt, mehr Zeichnung als Schrift, wie auf einen U-Bahn-Wagen gesprayt. Der Nachname war kurz, nur vier oder fünf Buchstaben, und der erste sah aus wie ein R– oder ein P?
    » Menschen sterben, natürlich « , sagte meine Mutter jetzt. » Aber es ist so

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