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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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herzzerreißend und unnötig, wie wir Dinge verlieren. Durch pure Nachlässigkeit. Durch Kriege, Brände. Das Parthenon, als Munitionslager verwendet. Ich glaube, dass es uns überhaupt gelingt, etwas aus der Geschichte zu retten, ist ein Wunder. «
    Der Großvater war an ein paar Bildern vorbei weitergewandert, aber das Mädchen trödelte ein paar Schritte weit hinter ihm und warf immer wieder einen Blick zurück zu meiner Mutter und mir. Eine wunderschöne Haut: milchweiß, Arme wie aus Marmor. Sie sah entschieden sportlich aus, aber zu blass für eine Tennisspielerin. Vielleicht war sie Ballerina oder Turnerin oder sogar Turmspringerin, die spätabends in schattendunklen Schwimmhallen trainierte– Echos und Lichtreflexe, dunkle Kacheln. Steilflug mit gewölbter Brust und gestreckten Zehen hinunter bis zum Grund des Beckens, ein lautloses Puff, ein schwarz glänzender Badeanzug, schäumende Luftblasen, die an der schmalen, straffen Gestalt entlangströmen.
    Wieso diese zwanghafte Beschäftigung mit jemandem? War es normal, sich auf diese besonders lebhafte, fiebrige Weise auf eine Fremde zu konzentrieren? Ich nahm es nicht an. Es war unvorstellbar, dass irgendein x-beliebiger Passant auf der Straße sich in einem ähnlichen Ausmaß für mich interessieren könnte. Aber es war der Hauptgrund dafür, dass ich mit Tom in diese Häuser gegangen war: Ich war fasziniert von Fremden, wollte wissen, was sie aßen, welche Filme sie anschauten, was für Musik sie hörten, ich wollte unter ihre Betten schauen und in ihre geheimen Schubladen und Nachttische und in die Taschen ihrer Mäntel. Oft sah ich interessant aussehende Leute auf der Straße und dachte dann tagelang ruhelos an sie, stellte mir ihr Leben vor, dachte mir Geschichten über sie in der U-Bahn oder im Crosstown-Bus aus. Jahre waren vergangen, und ich hatte immer noch nicht aufgehört, an die beiden dunkelhaarigen Kinder– Bruder und Schwester– in den Uniformen der katholischen Schule zu denken, die ich in Grand Central gesehen hatte, wo sie buchstäblich versuchten, ihren Vater an den Ärmeln seines Jacketts aus einer schmuddeligen Bar zu zerren. Auch das zerbrechliche, zigeunerhafte Mädchen im Rollstuhl vor dem Carlyle Hotel hatte ich nicht vergessen, das atemlos auf Italienisch mit dem flauschigen Hund auf seinem Schoß geredet hatte, während hinter ihr ein smarter Typ mit Sonnenbrille (Vater? Bodyguard?) offenbar eine geschäftliche Verhandlung am Telefon führte. Seit Jahren drehte ich diese Fremden im Kopf hin und her und fragte mich, wer sie waren und wie sie lebten, und ich wusste, jetzt würde ich nach Hause gehen und über dieses Mädchen und ihren Großvater genauso nachdenken. Der alte Mann hatte Geld, das sah man an seiner Kleidung. Warum waren die beiden allein? Woher kamen sie? Vielleicht gehörten sie zu einer großen alten, komplizierten New Yorker Familie– Musiker, Akademiker, eine von diesen kunstbeflissenen West-Side-Familien, die man oben rings um die Columbia University oder in den Matinees im Lincoln Center sehen konnte. Oder– so anheimelnd und zivilisiert, wie der alte Knabe aussah– vielleicht war er gar nicht ihr Großvater. Vielleicht war er ein Musiklehrer, und sie war das Flöte spielende Wunderkind, das er in irgendeiner Kleinstadt entdeckt und nach New York gebracht hatte, damit es in der Carnegie Hall spielte…
    » Theo? « , sagte meine Mutter plötzlich. » Hast du nicht gehört? «
    Ihre Stimme brachte mich wieder zu mir. Wir waren im letzten Raum der Ausstellung. Dahinter war der Ausstellungsshop– Postkarten, Registrierkasse, Stapel von hochglänzenden Kunstbüchern–, und meine Mutter hatte die Zeit unglücklicherweise doch nicht aus den Augen verloren.
    » Wir sollten nachsehen, ob es noch regnet « , sagte sie. » Ein bisschen Zeit haben wir noch « , sie sah auf die Uhr und schaute an mir vorbei zum EXIT -Schild, » aber ich glaube, ich gehe lieber nach unten, wenn ich noch etwas für Mathilde finden will. «
    Ich bemerkte, dass das Mädchen meine Mutter beobachtete, als sie sprach; ihr Blick wanderte neugierig über ihren glatten schwarzen Pferdeschwanz und den weißen Satin-Trenchcoat mit dem Gürtel um die Taille, und es überlief mich prickelnd, als ich meine Mutter einen Moment lang so sah, wie das Mädchen sie sah: als Fremde. Sah sie auch den winzigen Höcker oben auf der Nase, die sie sich als Kind bei einem Sturz vom Baum gebrochen hatte? Oder die schwarzen Ringe um die hellblaue Iris, die ihren

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