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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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detailliert wie möglich haben, denn immer wenn du Fliegen oder andere Insekten in einem Stillleben siehst oder ein welkes Blütenblatt, einen schwarzen Fleck auf einem Apfel, sendet der Maler dir eine geheime Botschaft. Er sagt dir, dass lebende Dinge nicht von Dauer sind. Alles ist vorübergehend. Tod im Leben. Darum heißen Stillleben auch natures mortes. Vielleicht siehst du ihn nicht gleich bei all der Schönheit und Blüte, den kleinen verfaulten Fleck. Aber wenn du genauer hinschaust– da ist er. «
    Ich beugte mich hinunter, um die Erklärung zu lesen, die in diskreten Lettern auf die Wand gedruckt war, und erfuhr, dass der Maler– Adriaen Coorte, Geburts- und Todesdatum unsicher– zu Lebzeiten unbekannt gewesen war und sein Werk erst in den 1950er Jahren Anerkennung gefunden hatte. » Hey « , sagte ich. » Mom, hast du das gesehen? «
    Aber sie war schon weitergegangen. Es war kalt und still in den Räumen mit ihren abgesenkten Decken, anders als in der großen Halle mit ihrem palasthaften Echo. Die Ausstellung war mäßig voll, aber trotzdem war sie erfüllt von der Atmosphäre eines bedächtig sich schlängelnden Nebengewässers, einer gewissen, wie vakuumversiegelten Ruhe: lange Seufzer und übertriebenes Ausatmen wie in einem Raum voller Studenten bei einer Klausur. Ich folgte meiner Mutter, die im Zickzack von einem Bild zum nächsten ging, von Blumen zu Kartentischen und weiter zu Früchten, viel schneller, als sie sonst durch eine Ausstellung spazierte. Sie ignorierte viele der Exponate (unseren vierten Silberkrug oder toten Fasan) und steuerte ohne Zögern auf andere zu ( » Hals zum Beispiel. Er ist manchmal so kitschig mit seinen Trinkern und Dirnen, aber wenn er trifft, dann trifft er. Nichts von dieser peniblen Präzision– er arbeitet nass in nass, Strich auf Strich, alles so schnell. Gesichter und Hände– wirklich ausgezeichnet wiedergegeben, denn er weiß schon, wo das Auge sich hingezogen fühlt, aber sieh dir die Kleider an, so locker, beinahe skizziert. Sieh nur diese offene und moderne Pinselarbeit! « ). Wir verbrachten einige Zeit vor dem Hals-Porträt eines jungen Mannes mit einem Totenschädel ( » Sei mir nicht böse, Theo, aber was würdest du sagen, wem er ähnlich sieht? Jemandem « , sie zupfte an den Haaren auf meinem Hinterkopf, » jemandem, der einen Haarschnitt nötig hat? « ) und vor zwei großen Porträts mit Offizieren beim Festmahl, die, wie sie mir sagte, sehr, sehr berühmt waren und einen riesigen Einfluss auf Rembrandt gehabt hatten ( » Van Gogh hat Hals auch geliebt. Irgendwo schreibt er über Hals und sagt: Frans Hals hat nicht weniger als neunundzwanzig Nuancen von Schwarz! Oder waren es siebenundzwanzig? « ). Ich folgte ihr mit dem benommenen Gefühl von verlorener Zeit, entzückt darüber, wie vertieft sie in die Ausstellung war und anscheinend gar nicht merkte, wie die Minuten im Fluge vergingen. Ich hatte das Gefühl, unsere halbe Stunde müsse fast vorüber sein, aber trotzdem wollte ich trödeln und sie ablenken in der kindischen Hoffnung, die Zeit werde verstreichen und wir würden die Konferenz ganz versäumen.
    » Ja, Rembrandt « , sagte meine Mutter. » Alle behaupten immer, dieses Bild handele von Vernunft und Aufklärung, von der Morgendämmerung wissenschaftlicher Forschung und so weiter, aber für mich ist es unheimlich, wie höflich und förmlich sie alle sind und sich um den Tisch herumdrängen wie bei einem Buffet auf einer Cocktailparty. Aber– siehst du die beiden verwirrten Kerle dahinten? Sie sehen den Leichnam gar nicht an, sie sehen uns an. Dich und mich. Als ob sie uns sähen, wie wir hier vor ihnen stehen– zwei Leute aus der Zukunft. Verblüfft. › Was macht ihr denn hier? ‹ Sehr naturalistisch. Aber dann wiederum « – sie fuhr mit dem Finger durch die Luft und an den Konturen der Leiche entlang– » ist der Tote gar nicht sehr naturalistisch gemalt, wenn du genau hinschaust. Er strahlt einen gespenstischen Glanz aus, siehst du? Fast wie die Obduktion eines Aliens. Siehst du, wie er die Gesichter der Männer beleuchtet, die auf ihn hinabschauen? Als leuchtete in ihm eine eigene Lichtquelle? Hals malt ihn mit dieser radioaktiven Note, weil er unseren Blick darauf lenken will– weil er uns ins Auge springen soll. Und hier « – sie zeigte auf die enthäutete Hand–, » siehst du, wie er die Aufmerksamkeit auf die Hand lenkt, indem er sie so groß malt, unproportional groß zum Rest des Körpers? Er hat sie sogar

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