Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
Augen etwas leicht Wildes verliehen, wie bei einem jagenden Geschöpf mit scharfem Blick, allein in der weiten Prärie?
    » Weißt du… « Meine Mutter sah sich noch einmal um. » Wenn du nichts dagegen hast, würde ich vielleicht noch mal zurücklaufen und einen kurzen Blick auf die Anatomiestunde werfen, bevor wir gehen. Ich hab’s nicht aus der Nähe sehen können, und vielleicht schaffe ich es nicht noch einmal herzukommen, ehe es abgehängt wird. « Mit geschäftig klappernden Absätzen ging sie los und warf dann einen Blick zurück, als wollte sie sagen: Kommst du nicht?
    Es kam so unerwartet, dass ich einen Sekundenbruchteil lang überhaupt nicht wusste, was ich sagen sollte. » Äh « , sagte ich und fasste mich wieder, » ich warte im Shop auf dich. «
    » Okay « , rief sie. » Kauf mir zwei Postkarten, ja? Ich bin gleich wieder da. «
    Weg war sie, bevor ich noch ein Wort sagen konnte. Mit klopfendem Herzen und außerstande, mein Glück zu fassen, sah ich dem weißen Satin-Trenchcoat nach, der sich rasch entfernte. Das war sie, die Chance, mit dem Mädchen zu sprechen, aber was kann ich zu ihr sagen, dachte ich hektisch, was kann ich sagen? Ich vergrub die Hände in den Taschen, atmete ein oder zwei Mal durch, um mich zu sammeln, und mit hell sprudelnder Aufregung im Bauch drehte ich mich um.
    Zu meiner Bestürzung war sie verschwunden. Das heißt, verschwunden war sie nicht; ich sah ihren Rotkopf widerwillig (so schien es mir) durch den Raum schweben. Ihr Großvater hatte sich bei ihr untergehakt und flüsterte ihr mit großer Begeisterung etwas zu, während er sie zu einem Bild an der Wand gegenüber schleppte.
    Ich hätte ihn umbringen können. Nervös schaute ich zum leeren Eingang hinüber. Dann bohrte ich die Hände noch tiefer in die Taschen und spazierte auffällig– und mit glühendem Gesicht– quer durch den ganzen Raum. Die Uhr tickte; meine Mutter würde jeden Augenblick zurück sein, und auch wenn ich wusste, ich hatte nicht den Mut, auf sie loszumarschieren und wirklich etwas zu sagen, konnte ich sie doch wenigstens noch mal eingehend betrachten. Es war nicht allzu lange her, dass ich mit meiner Mutter spätabends Citizen Kane gesehen hatte; ich war sehr begeistert von der Vorstellung, man könne im Vorübergehen eine bezaubernde Fremde wahrnehmen und sich für den Rest des Lebens an sie erinnern. Eines Tages wäre ich vielleicht auch wie der alte Mann in dem Film, ich würde mich im Sessel zurücklehnen, den Blick in die Ferne richten und sagen: » Weißt du, das ist jetzt sechzig Jahre her, und ich habe das Mädchen mit den roten Haaren nie wiedergesehen, aber soll ich dir was sagen? In der ganzen Zeit ist nicht ein Monat vergangen, in dem ich nicht an sie gedacht hätte. «
    Ich hatte den Raum mehr als zur Hälfte durchschritten, als etwas Merkwürdiges passierte. Ein Museumswärter rannte an der offenen Tür des Ausstellungsshops vorbei. Er trug etwas auf den Armen.
    Das Mädchen sah es auch. Ihre goldbraunen Augen sahen mich an, erschrocken, fragend.
    Plötzlich kam ein zweiter Wärter aus dem Shop gestürmt. Er hatte die Arme erhoben und schrie.
    Köpfe fuhren hoch. Jemand hinter mir sagte mit merkwürdig flacher Stimme: Oh! Im nächsten Moment erschütterte eine gewaltige, ohrenbetäubende Explosion den Raum.
    Der alte Mann taumelte mit ausdruckslosem Gesicht seitwärts. Sein ausgestreckter Arm– die knotigen Finger gespreizt– ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Fast genau im selben Augenblick kam ein schwarzer Blitz, Trümmer rauschten und wirbelten um mich herum, und ein brüllender, heißer Wind schlug mir entgegen und schleuderte mich durch den Raum. Danach wusste ich eine Zeitlang nichts mehr.
    V
    Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig war. Als ich zu mir kam, lag ich flach auf dem Bauch in einem Sandkasten auf irgendeinem dunklen Spielplatz– in einer verlassenen Gegend, die ich nicht kannte. Eine Bande von harten kleinen Jungen drängte sich um mich, und sie traten mir in die Rippen und an den Hinterkopf. Mein Hals war zur Seite verdreht, und es hatte mir den Atem verschlagen, aber das war nicht das Schlimmste: Ich hatte Sand im Mund, ich atmete Sand.
    Die Jungen murrten hörbar. Steh auf, Arschloch.
    Seht ihn euch an, seht ihn an.
    Er hat keine verdammte Ahnung.
    Ich rollte mich herum und warf die Arme über den Kopf, und dann erkannte ich– mit einem schwerelosen, surrealen Ruck–, dass da niemand war.
    Einen Moment lang war ich wie gelähmt und konnte

Weitere Kostenlose Bücher