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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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umgedreht, sodass der Daumen auf der falschen Seite ist, siehst du? Na, das hat er nicht aus Versehen getan. Die Haut der Hand ist weg, das sehen wir sofort, denn es ist sehr schlimm, aber indem er den Daumen auf die andere Seite dreht, lässt er es noch schlimmer aussehen, und auch wenn wir nicht den Finger darauflegen können, nehmen wir doch unterschwellig wahr, dass hier etwas wirklich nicht in Ordnung ist, nicht richtig. Ein sehr raffinierter Trick. « Wir standen hinter einer Gruppe von asiatischen Touristen. Es waren so viele Köpfe, dass ich das Bild kaum richtig betrachten konnte, aber das störte mich andererseits nicht besonders, denn ich hatte dieses Mädchen gesehen.
    Sie hatte mich auch gesehen. Wir hatten einander beäugt, als wir durch die Galerien wanderten. Ich hätte nicht mal genau sagen können, was so interessant an ihr war, denn sie war jünger als ich und sah ein bisschen seltsam aus, ganz anders als die Mädchen, in die ich mich normalerweise verknallte– kühle, ernste Schönheiten, die sich mit verachtungsvollem Blick auf dem Flur umsahen und mit größeren Jungen ausgingen. Dieses Mädchen hatte leuchtend rotes Haar. Ihre Bewegungen waren flink, ihre Gesichtszüge scharf und boshaft und seltsam, und ihre Augen hatten eine merkwürdige Farbe, ein goldenes Honigbienenbraun. Sie war zu dünn, bestand fast nur aus Ellenbogen und sah auf eine gewisse Weise beinahe unscheinbar aus, und doch hatte sie etwas an sich, das meinen Magen flattern ließ. Sie schwenkte einen verschrammten Flötenkoffer mit sich herum– ein Mädchen aus der Stadt? Auf dem Weg zum Musikunterricht? Vielleicht nicht, dachte ich und ging hinten um sie herum, um meiner Mutter in die nächste Galerie zu folgen; ihre Kleidung war ein bisschen zu nichtssagend und vorstädtisch, und wahrscheinlich war sie eher eine Touristin. Aber sie bewegte sich mit größerer Sicherheit als die meisten Mädchen, die ich kannte, und der listig gelassene Blick, den sie über mich hinweggleiten ließ, als sie sich vorbeischob, machte mich wahnsinnig.
    Ich blieb hinter meiner Mutter und hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, als sie so plötzlich vor einem Gemälde stehen blieb, dass ich sie beinahe angerempelt hätte.
    » Oh, Verzeihung! « , sagte sie, ohne mich anzusehen, und trat einen Schritt zurück, um Platz zu machen. Ihr Gesicht sah aus, als habe jemand einen Scheinwerfer darauf gerichtet.
    » Das ist es, von dem ich gesprochen habe « , sagte sie. » Ist es nicht unglaublich? «
    Ich neigte ihr den Kopf zu wie ein aufmerksamer Zuhörer, während mein Blick zu dem Mädchen zurückwanderte. Sie war in Begleitung eines komischen alten, weißhaarigen Typen. Nach den scharfen Gesichtszügen zu urteilen, war er mit ihr verwandt, ihr Großvater vielleicht: Pepita-Jacke, lange schmale Schnürschuhe, glänzend wie Glas. Seine Augen standen dicht beieinander, er hatte eine schnabelartige Hakennase, und er hinkte– ja, sein ganzer Körper hatte Schlagseite, und die eine Schulter war höher als die andere. Wäre diese Schiefneigung noch stärker ausgeprägt gewesen, hätte man ihn als Buckligen bezeichnen können. Trotzdem hatte er etwas Elegantes an sich. Und es war klar, dass er das Mädchen anbetete; man sah es daran, wie er amüsiert und kameradschaftlich neben ihr herhumpelte und sorgfältig darauf achtete, wohin er die Füße setzte, während er ihr den Kopf zuneigte.
    » Das ist ungefähr das erste Bild, das ich jemals wirklich geliebt habe « , sagte meine Mutter gerade. » Du wirst es nicht glauben, aber es war in einem Buch, das ich als Kind immer aus der Bücherei entliehen habe. Ich saß dann auf dem Boden vor meinem Bett und starrte es an, stundenlang, fasziniert– dieses kleine Kerlchen! Und ich meine, tatsächlich ist es ja unglaublich, wie viel man über ein Gemälde lernen kann, wenn man eine Menge Zeit mit einer Reproduktion verbringt, selbst wenn es keine besonders gute ist. Es fing damit an, dass ich den Vogel liebte, wie man ein Haustier liebt oder so etwas, und am Ende liebte ich die Art und Weise, wie er gemalt war. « Sie lachte. » Die Anatomiestunde war übrigens in demselben Buch, aber sie hat mir eine Heidenangst eingejagt. Ich habe das Buch immer zugeschlagen, wenn ich es aus Versehen auf dieser Seite öffnete. «
    Das Mädchen und der alte Mann waren neben uns stehen geblieben. Befangen beugte ich mich vor und schaute mir das Bild an. Es war klein, das kleinste Bild der Ausstellung und das schlichteste: ein gelber Fink

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