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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ist nicht so, als ob ich bekloppt oder Kleptomanin wäre. «
    » Ja, aber « , ich versuchte immer noch, das Wort Horrorfilm zu verdrängen, » in der Schweiz? Das ist ziemlich cool. «
    » Wenn du das sagst. «
    » Ich kannte mal ein Mädchen, Lallie Foulkes, die auf Le Rosey gegangen ist. Sie hat gesagt, dass es dort jeden Morgen eine Schokoladenpause gab. «
    » Also wir kriegen nicht mal Marmelade auf den Toast. « Ihre Hand zeichnete sich blass und sommersprossig von ihrem dunklen Mantel ab. » Nur die Mädchen mit den Essstörungen. Wenn man Zucker in den Tee haben will, muss man sich Tütchen aus dem Schwesternzimmer klauen. «
    » Ähm… « Das wurde ja immer schlimmer. » Kennst du ein Mädchen namens Dorit Vielliers? «
    » Nein. Sie war dort. Aber dann wurde sie woanders hingeschickt. Ich glaube, sie hat versucht, jemandem das Gesicht zu zerkratzen. Sie war eine Zeitlang im Arrest. «
    » Was? «
    » So nennen sie es nicht. « Sie rieb sich die Nase. » Es ist ein Haus, das La Grange genannt wird– alles ist auf Melkmädel und unechten Bauernstil getrimmt, weißt du. Schöner als die anderen Wohnhäuser. Aber die Türen sind alarmgesichert, und es gibt Wärter und so. «
    » Nun, ich meine… « Ich dachte an Dorit Villiers– krauses goldenes Haar, leere blaue Augen wie ein geistesgestörter Weihnachtsengel– und wusste nicht, was ich sagen sollte.
    » In La Grange stecken sie nur die wirklich Verrückten. Ich wohne mit einem Haufen Französisch sprechender Mädchen in Bessonet. Angeblich damit ich besser Französisch lerne, aber es führt nur dazu, dass niemand mit mir redet. «
    » Du solltest ihr sagen, dass es dir nicht gefällt! Deiner Tante. «
    Sie verzog das Gesicht. » Das mache ich ja. Aber dann erklärt sie mir, wie viel es kostet. Oder sie klagt, dass ich ihre Gefühle verletze. Wie dem auch sei « , sagte sie beklommen in einem Ich muss los -Ton und blickte sich um.
    » Hä « , sagte ich schließlich nach einer beduselten Pause. Tag und Nacht war mein Delirium koloriert gewesen von dem Wissen, dass sie im Haus war. Wenn ich ihre Stimme oder ihre Schritte im Flur vernahm, spürte ich jedes Mal einen Energieschub der Freude: Wir würden uns ein Zelt aus Decken bauen, sie würde an der Eisbahn auf mich warten, ein helles Summen der Aufregung über all die Dinge, die wir machen würden, wenn ich wieder gesund war– es kam mir tatsächlich so vor, als hätten wir einiges gemacht, zum Beispiel regenbogenfarbene Bonbonketten aufgefädelt, während im Radio Belle and Sebastian lief, und später waren wir durch eine nichtexistente Automatenspielhalle am Washington Square geschlendert.
    Hobie stand diskret im Flur. » Tut mir leid. « Er sah auf seine Uhr. » Ich möchte dich wirklich nicht hetzen… «
    » Klar « , sagte sie und zu mir: » Dann auf Wiedersehen. Ich hoffe, es geht dir bald besser. «
    » Warte! «
    » Was? « Sie drehte sich noch einmal halb um.
    » Weihnachten bist du doch wieder hier, oder? «
    » Nee. Bei Tante Margaret. «
    » Und wann kommst du dann zurück? «
    » Na ja « , sie zog eine Schulter leicht hoch, » weiß nicht. In den Osterferien vielleicht. «
    » Pips… « , sagte Hobie, obwohl er eigentlich nicht sie, sondern mich meinte.
    » Gut. « Sie strich sich das Haar aus den Augen.
    Ich wartete, bis ich hörte, wie die Haustür geschlossen wurde, bevor ich aufstand und den Vorhang öffnete. Durch die staubige Scheibe sah ich sie gemeinsam die Treppe vor dem Haus hinuntergehen, Pippa mit pinkfarbenem Schal und Mütze, leicht gehetzt neben Hobies großer, gut gekleideter Gestalt.
    Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, starrte ich noch eine Weile auf die leere Straße, bevor ich mich benommen und verzweifelt zu ihrem Zimmer schleppte und– unfähig zu widerstehen– die Tür einen Spalt öffnete.
    Es sah genauso aus wie vor zwei Jahren, nur leerer. Der Zauberer von Oz - und Save Tibet -Poster. Kein Rollstuhl. Auf dem Sims vor dem Fenster eine dicke Schicht weißer Hagelkörner. Aber es roch nach ihr, es war noch warm und atmete ihre Gegenwart, und ich stand da und sog ihre Aura ein. Ich spürte, wie sich ein glückliches Lächeln über mein Gesicht breitete, einfach weil ich dastand mit ihren Märchenbüchern, ihren Parfümflaschen, ihrem Tablett mit glitzernden Haarspangen und ihrer Valentinskarten-Sammlung: Seidenpapier, Cupidos und Kolumbinen, edwardianische Verehrer, die Rosensträuße an ihr Herz drückten. Auf Zehenspitzen schlich ich barfuß zu den silbern

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