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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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eingepackt hatte, bevor ich eingeschlafen war.
    » Was ist los? «
    Ich zwang mich, sie direkt anzusehen. » Nichts. « Ich war schon ein paar Mal unter das Bett gekrochen, nur um den Kissenbezug zu berühren, und fragte mich jetzt unwillkürlich, ob ich achtlos gewesen war und eine Ecke hervorragte. Nicht nach unten gucken, ermahnte ich mich. Schau sie an.
    » Hier « , sagte Pippa. » Hab was für dich gebastelt. Streck die Hand aus. «
    » Wow « , sagte ich und starrte auf das stachelige, leuchtend gelbgrüne Origami auf meiner Handfläche. » Danke. «
    » Weißt du, was es ist? «
    » Äh… « Reh? Kuh? Gazelle? Panisch blickte ich zu ihr auf.
    » Gibst du auf? Ein Frosch! Sieht man das nicht? Stell ihn auf den Nachttisch. Er sollte hüpfen, wenn man so darauf drückt, siehst du? «
    Während ich verlegen mit dem Papierfrosch spielte, spürte ich ihren Blick auf mir– Augen, in denen Licht und Wildheit lagen, eine sorglose Macht wie in den Augen eines kleinen Kätzchens.
    » Kann ich mal sehen? « Sie schnappte sich meinen iPod und scrollte eifrig durch die Listen. » Hm « , sagte sie. » Nett! Magnetic Fields, Mazzy Star, Nico, Nirvana, Oscar Peterson. Keine Klassik? «
    » Doch, ein paar Stücke « , sagte ich beschämt. Eigentlich war alles, was sie erwähnt hatte, von meiner Mutter, bis auf Nirvana, und selbst davon war einiges ihrs.
    » Ich würde dir ein paar CD s brennen. Aber ich habe meinen Computer in der Schule gelassen. Ich könnte dir was schicken– in letzter Zeit habe ich viel Avo Pärt gehört, frag mich nicht warum, ich muss es über Kopfhörer hören, weil es meine Mitbewohnerinnen wahnsinnig macht. «
    Voller Angst, sie könnte mich beim Starren erwischen, und doch unfähig, den Blick loszureißen, beobachtete ich, wie sie mit gesenktem Kopf meinen iPod studierte: hellrosarote Ohren, die Narbe unter ihrem glühend roten Haar. Im Profil, den Blick gesenkt, wirkten ihre Augen lang und schwerlidrig, mit einer Zartheit darin, die mich an die Engel und Edelknaben aus dem Band mit nordeuropäischen Meisterwerken erinnerte, den ich mir immer wieder aus der Bücherei ausgeliehen hatte.
    » Hey… « Die Worte verdörrten in meinem Mund.
    » Ja? «
    » Ähm… « Warum war es nicht wie vorher? Warum fiel mir nichts ein?
    » Ohoho! « Sie sah zu mir auf und lachte dann wieder, zu heftig, um zu sprechen.
    » Was ist? «
    » Warum guckst du mich so an? «
    » Wie? « , fragte ich beunruhigt.
    » Wie… « Ich war nicht sicher, wie ich die stieläugige Grimasse deuten sollte, die sie zog. Ein Mensch, der erstickte? Ein Junge mit Down-Syndrom? Ein Fisch?
    » Werd nicht gleich wütend. Du bist bloß so ernst. Es ist « , sie blickte wieder auf den iPod und brach in Gelächter aus, » auweia, Schostakowitsch « , sagte sie, » schwere Kost. «
    An wie viel erinnerte sie sich, fragte ich mich, glühend vor Scham und doch unfähig, die Augen von ihr zu wenden. So etwas konnte man nicht fragen, aber ich wollte es trotzdem wissen. Hatte sie auch Albträume? Angst vor großen Menschenmengen? Schweißausbrüche und Panikattacken? Hatte sie je das Gefühl, sich selbst von Weitem zu beobachten– wie ich so oft–, als hätte die Explosion meinen Körper und meine Seele auseinandergerissen, sodass sie jetzt zwei getrennte Wesenheiten bildeten, die ein paar Meter voneinander entfernt verharrten? Ihr Lachen hatte eine sich selbst antreibende verwegene Unbekümmertheit, die ich von meinen wilden Nächten mit Boris nur zu gut kannte, einen hysterischen Unterton, den ich (zumindest bei mir selbst) mit der Erfahrung assoziierte, dem Tod knapp entronnen zu sein. An manchen Nächten in der Wüste war mir regelrecht schlecht vor Lachen gewesen, stundenlang hatte ich mir zuckend den Bauch gehalten und hätte mich mit Vergnügen vor ein Auto geworfen, nur damit es aufhörte.
    IV
    Obwohl es mir noch längst nicht gut ging, erhob ich mich am Montagmorgen aus dem Nebel meiner Schmerzen und Verschlafenheit und trottete pflichtschuldig in die Küche, um Mr. Bracegirdles Kanzlei anzurufen. Aber als ich nach ihm fragte, informierte seine Sekretärin mich (nachdem sie mich kurz hatte warten lassen und dann zu schnell wieder in der Leitung war), dass Mr. Bracegirdle nicht im Büro sei, und nein, sie habe auch keine Nummer, unter der er zu erreichen war, und nein, sie könne mir leider nicht sagen, wann er zurückkommen würde. Ob sonst noch etwas anliege?
    » Nun… « Ich hinterließ Hobies Nummer und bereute gerade, dass ich zu

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