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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ich je geschnüffelt hatte, und ab irgendeinem Punkt der Erschöpfung wurde das Lernen selbst zu einer Art Droge, die mich so auslaugte, dass ich meine Umgebung kaum noch wahrnahm.
    Und trotzdem war ich dankbar für die Arbeit, weil sie mich durchgängig zu benommen machte, um nachzudenken. Die Scham, die mich quälte, hatte keinen klaren Ursprung, was sie umso zersetzender agieren ließ: Ich wusste nicht, warum ich mich so verdorben und wertlos fühlte, so falsch– nur dass es so war, und wenn ich von meinen Büchern aufblickte, stürzte jedes Mal von allen Seiten eine Flut schmutziger Gewässer auf mich ein. Das hatte zum Teil mit dem Gemälde zu tun. Ich wusste, dass aus seinem Besitz nichts Gutes erwachsen würde, doch ich wusste auch, dass ich es schon zu lange behalten hatte, um mich noch zu melden. Mich Mr. Bracegirdle anzuvertrauen, wäre tollkühn gewesen. Meine Position war zu unsicher; er konnte es ohnehin kaum erwarten, mich aufs Internat zu schicken. Und wenn ich, wie ich es häufig tat, daran dachte, mich Hobie zu offenbaren, verzettelte ich mich in diversen theoretischen Szenarien, von denen keines mehr oder weniger plausibel erschien als die anderen.
    Ich gab Hobie das Gemälde, und er würde sagen: » Oh, keine große Sache « , sich irgendwie (mit der Logistik dieses Teils hatte ich Probleme) darum kümmern, irgendwelche Bekannten anrufen, eine großartige Idee haben, was zu tun war, oder so was in der Art, ohne bekümmert oder wütend zu sein, und alles würde gut?
    Oder: Ich gab Hobie das Gemälde, und er rief die Polizei an.
    Oder: Ich gab Hobie das Gemälde, er behielt es für sich und sagte dann: » Was, bist du verrückt geworden? Gemälde? Ich weiß nicht, wovon du redest. «
    Oder: Ich gab Hobie das Gemälde, er nickte mitfühlend, erklärte mir, dass ich das Richtige getan habe, und rief dann, sobald ich das Zimmer verlassen hatte, seinen eigenen Anwalt an, um mich auf ein Internat oder in ein Heim zu verfrachten (wo, mit oder ohne Gemälde, ohnehin die meisten meiner Szenarien endeten).
    Aber der ungleich größere Teil meines Unbehagens hatte mit meinem Vater zu tun. Ich wusste, dass ich keine Schuld an seinem Tod hatte, und war doch auf eine bis ins Mark gehende, irrationale und völlig unerschütterliche Weise überzeugt, dass es doch so war. In Anbetracht der Kälte, mit der ich mich im Moment seiner finalen Verzweiflung von ihm abgewandt hatte, schien die Tatsache, dass er gelogen hatte, irrelevant. Vielleicht hatte er gewusst, dass es in meiner Macht lag, seine Schulden zu bezahlen– ein Umstand, der mich verfolgte, seit Mr. Bracegirdle ihn so beiläufig erwähnt hatte. Aus dem Schatten jenseits der Schreibtischlampe starrten mich Hobies Terrakotta-Greife mit glänzenden Glasaugen an. Hatte mein Vater geglaubt, dass ich ihn absichtlich auflaufen ließ? Dass ich seinen Tod wollte? Nachts träumte ich, dass er verprügelt und über Casino-Parkplätze gejagt wurde, und mehr als einmal schreckte ich hoch und sah ihn auf dem Stuhl neben meinem Bett sitzen und mich stumm beobachten, nur die Glut seiner Zigarette glühte im Dunkeln. Aber sie haben gesagt, dass du gestorben bist, sagte ich laut, bevor ich begriff, dass er nicht da war.
    Ohne Pippa war es totenstill im Haus. Die verschlossenen offiziellen Räume muffelten feucht wie welkes Laub. Ich strich ziellos herum, betrachtete ihre Sachen, fragte mich, wo sie war und was sie machte, und strengte mich an, mich durch so dürftige Fäden wie ein rotes Haar im Abfluss der Badewanne oder einen zusammengeknüllten Socken unter dem Sofa mit ihr verbunden zu fühlen. Aber sosehr ich das nervöse Kribbeln ihrer Gegenwart vermisste, das Haus an sich besänftigte mich, das Gefühl von Sicherheit und Schutz: alte Porträts und schlecht beleuchtete Flure, laut tickende Uhren. Es war, als hätte ich als Kabinensteward auf der Marie Céleste angeheuert. Während ich mich durch anhaltende Stille und Flecken von Schatten und tief stehendem Sonnenlicht bewegte, ächzten die Dielen unter meinen Schritten wie das Deck eines Schiffs, und das Rauschen des Verkehrs auf der Sixth Avenue drang gerade noch hörbar an mein Ohr. Während ich oben mit schwirrendem Kopf über Differentialgleichungen, dem Newtonschen Abkühlungsgesetz und unabhängigen Variablen brütete, wir nutzen die Tatsache, dass Tau konstant ist, um seine Ableitung zu eliminieren, war Hobies Präsenz ein Anker, ein freundliches Gewicht: Ich fand es beruhigend, wenn ich das gedämpfte Hämmern

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