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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Nacken schnupperte.
    V
    Vor dem Telefonat hatte ich mich eigentlich schon besser gefühlt, doch es war, als ob diese Neuigkeit einen Rückfall ausgelöst hätte. Während das Fieber im Laufe des Tages wieder stieg und mich erneut benommen und kraftlos machte, konnte ich an nichts anderes denken als an meinen Dad: Ich muss ihn anrufen, dachte ich und schreckte immer wieder im Bett hoch, wenn ich gerade eingedöst war, als ob sein Tod nicht real, sondern nur eine Probe, ein Testlauf gewesen wäre. Der wirkliche (permanente) Tod sollte erst noch passieren, und es blieb Zeit, ihn aufzuhalten, wenn ich meinen Dad nur finden konnte, wenn er nur an sein Handy ginge, wenn Xandra ihn von der Arbeit aus erreichen könnte, ich muss ihn erreichen, ich muss es ihm sagen. Später– der Tag war vorbei, es war dunkel, und ich war in einen unruhigen Wachtraum gefallen, in dem mein Dad mich heftig tadelte, weil ich irgendwelche Flugreservierungen durcheinandergebracht hatte– bemerkte ich Licht im Flur und einen winzigen Schatten im Gegenlicht, Pippa, die, fast als hätte sie jemand geschubst, unvermittelt ins Zimmer stolperte, sich skeptisch umdrehte und fragte: » Soll ich ihn wecken? «
    » Warte « , sagte ich, halb zu ihr– halb zu meinem Dad, der schnell in die Dunkelheit zurücksank, einen randalierenden Mob von Stadionbesuchern jenseits eines hohen bogenförmigen Tors.
    » Entschuldigung? « , fragte ich, einen Arm über die Augen gelegt, desorientiert vom grellen Licht der Lampe.
    » Nein, ich muss mich entschuldigen. Es ist bloß– ich meine « ,– sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht –, » ich fahre ab und wollte mich noch verabschieden. «
    » Verabschieden? «
    » Oh. « Sie zog ihre blassen Brauen zusammen, blickte zur Tür zu Hobie (der verschwunden war) und dann wieder zu mir. » Gut. Also. «
    Ihre Stimme klang ein wenig panisch. » Ich fahre zurück. Heute Abend. Jedenfalls war es schön, dich zu sehen. Ich hoffe, dass sich bei dir alles klärt. «
    » Heute Abend? «
    » Ja, mein Flug geht gleich. Sie hat mich aufs Internat geschickt? « , sagte sie, als ich sie weiter anstarrte. » Ich war nur zu Thanksgiving hier? Und für einen Arzttermin? Schon vergessen? «
    » O ja. Richtig. « Ich starrte sie eindringlich an und hoffte, dass ich noch schlief. Internat hörte sich vage vertraut an, doch ich hatte gedacht, das hätte ich nur geträumt.
    » Ja « , auch sie wirkte verlegen, » schade, dass du nicht früher gekommen bist, es war lustig. Hobie hat gekocht– wir hatten jede Menge Besuch. Ich hatte Glück, dass ich überhaupt kommen durfte– ich brauchte eine Erlaubnis von Dr. Camenzind. An meiner Schule kriegt man zu Thanksgiving nicht frei. «
    » Was machen sie denn sonst? «
    » Sie feiern es nicht. Na ja– ich glaube, sie machen vielleicht einen Truthahn für die Leute, die es feiern. «
    » Was für eine Schule ist das? «
    Als sie– mit einem leicht spöttischen Zucken um die Mundwinkel– den Namen nannte, war ich schockiert. Das Mont-Haefeli-Institut war eine Schule in der Schweiz– laut Andy international kaum anerkannt–, auf die nur die dümmsten und massiv gestörten Mädchen gingen.
    » Mont-Haefeli? Echt? Ich dachte, das wäre eine… « Das Wort psychiatrisch klang verkehrt. » Wow. «
    » Na ja, Tante Margaret sagt, ich werde mich schon daran gewöhnen. « Sie spielte mit dem Origami-Frosch auf dem Nachttisch und versuchte, ihn hüpfen zu lassen, aber er war verbogen und neigte sich zur Seite. » Und die Aussicht ist wie der Berg auf der Buntstiftschachtel von Caran d’Ache. Schneebedeckte Gipfel, Bergwiesen mit Blumen und so weiter. Ansonsten ist es wie einer dieser langweiligen europäischen Horrorfilme, in denen nicht viel passiert. «
    » Aber… « Ich hatte das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben, oder vielleicht schlief ich doch noch. Der einzige Mensch, den ich kannte, der auf Mont-Haefeli gegangen war, war James Vielliers’ Schwester, und sie war dorthin geschickt worden, weil sie ihrem Freund mit einem Messer in die Hand gestochen hatte.
    » Ja, es ist schon merkwürdig dort. « Sie ließ den Blick gelangweilt durchs Zimmer schweifen. » Eine Schule für Verrückte. Aber es gab nicht viele Schulen, auf die ich mit meiner Kopfverletzung hätte gehen können. Es gibt da eine angeschlossene Klinik « , meinte sie achselzuckend. » Fest angestellte Ärzte. Es ist eine größere Sache, als man annehmen sollte. Seit dem Schlag auf den Kopf habe ich Probleme, aber es

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