Der Distelfink
gewohnten Platz: in der Ladestation auf dem Fenstersims, wo sie es jeden Morgen als Erstes herausrupfte. Manchmal war ich mitten in der Nacht aufgewacht und hatte im Dunkeln das blaue Leuchten unter der Decke auf ihrer Seite des Bettes gesehen, in ihrem geheimen Nest aus Bettlaken. » Ach, ich will nur sehen, wie spät es ist « , sagte sie dann, wenn ich schlaftrunken herumrollte und fragte, was sie da mache. Ich nahm an, es lag abgeschaltet in der Alligatorhandtasche in dem üblichen Chaos aus Lippenstiften und Visitenkarten und Parfümpröbchen und lose herumfliegendem Bargeld, zerknüllten Zwanzigern, die immer herausfielen, wenn sie ihre Haarbürste suchte. Dort in diesem duftenden Durcheinander würde Cable im Laufe der Nacht mehrmals anrufen und zahlreiche SMS und Voicemails hinterlassen, die sie finden würde, wenn sie morgen früh aufwachte.
Worüber sprachen sie? Was hatten sie einander zu sagen? Komischerweise war es ganz einfach, mir ihren Umgang miteinander vorzustellen. Munteres Geplauder, ein Gefühl von raffiniertem Einverständnis, und Cable gab ihr im Bett alberne Namen und kitzelte sie, bis sie quiekte.
Ich drückte die Zigarette aus. Keine Form, kein Sinn, keine Bedeutung. Kitsey mochte es nicht, wenn ich in ihrem Zimmer rauchte, aber wenn sie den ausgedrückten Zigarettenstummel in der Limoges-Dose auf ihrer Kommode fände, würde sie wahrscheinlich nichts sagen. Um die Welt überhaupt zu verstehen, konnte man sich manchmal nur auf einen winzigen Ausschnitt davon fokussieren und sehr angestrengt betrachten, was in der Nähe war, um es dann für das Ganze zu nehmen. Aber seit das Bild mir unter den Händen verschwunden war, fühlte ich mich wie ertrunken, ausgelöscht von der Unendlichkeit– nicht nur der erwartbaren Unendlichkeit von Zeit und Raum, sondern auch den unüberbrückbaren Distanzen zwischen zwei Menschen, die auf Armlänge voneinander entfernt waren. Eine Woge des Schwindels überkam mich, als ich an all die Orte dachte, an denen ich gewesen und an denen ich nicht gewesen war, eine ganze Welt, verloren, endlos und unerfassbar, ein trübes Labyrinth von Städten und Gassen, von weithin wehender Asche und feindseliger Unermesslichkeit, von verpassten Verbindungen, von verlorenen und nie wiedergefundenen Dingen, und mein Bild war fortgerissen von dieser machtvollen Strömung und trieb irgendwo da draußen umher: ein winziges Fragment des Geistes, ein matter Funke, dümpelnd auf einem dunklen Meer.
XXIV
Da ich nicht wieder einschlafen konnte, ging ich, ohne Kitsey zu wecken, in der eisig schwarzen Stunde vor Tagesanbruch. Fröstelnd zog ich mich im Dunkeln an. Eine der Mitbewohnerinnen war nach Hause gekommen und stand unter der Dusche. Das Letzte, was ich wollte, war, einer der beiden auf dem Weg nach draußen über den Weg zu laufen.
Als ich aus der Linie F stieg, wurde der Himmel heller. In der bitteren Kälte schleppte ich mich nach Hause– deprimiert und todmüde schloss ich die Seitentür auf und stapfte die Treppe hinauf, die Brille verschmiert und stinkend nach Rauch und Sex und Curry und Kitseys Chanel No.19. Ich blieb kurz stehen, um Poptschik zu begrüßen, der durch den Flur galoppiert kam und mit seiner gewohnten Aufregung um meine Füße herumtollte, und zog meine zusammengerollte Krawatte aus der Tasche, um sie an die Stange an der Innenseite der Tür zu hängen. Das Blut gefror fast in meinen Adern, als ich eine Stimme aus der Küche hörte: » Theo, bist du das? «
Ein Rotschopf spähte um die Ecke. Sie war es, mit einer Kaffeetasse in der Hand.
» Entschuldigung, hab ich dich erschreckt? « Ich stand wie gebannt und vom Donner gerührt da, als sie mir mit einem glücklichen Summton die Arme um den Hals schlang. Poptschik japste und sprang aufgeregt zu unseren Füßen herum. Sie trug noch die Sachen, in denen sie geschlafen hatte, eine bunt gestreifte Pyjamahose und ein langärmeliges T-Shirt, und darüber einen alten Pullover von Hobie, und sie roch noch nach zerwühlten Laken und Bett: O Gott, dachte ich, und ich schloss die Augen und drückte das Gesicht an ihre Schulter, berauscht von Glück und Angst in diesem jähen Luftzug vom Himmel– o Gott.
» Wie schön, dich zu sehen!« Da war sie. Ihr Haar– ihre Augen. Sie. Abgekaute Fingernägel wie bei Boris, eine vorgeschobene Unterlippe wie bei einem Kind, das zu viel am Daumen lutschte, rot zerzauster Kopf wie bei einer Dahlie. » Wie geht es dir? Du hast mir gefehlt! «
» Ich… « Alle meine Vorsätze
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