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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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war so wundervoll, dass ich dachte, ich müsste sterben, aber wenn ich danach wach lag, machte die Leere mich krank: ihr weißer Arm auf der Bettdecke, aufleuchtende Straßenlaternen, das Grauen vor dem Augenblick, da es acht Uhr wäre und sie aufstehen und sich zur Arbeit anziehen müsste, für ihren Job in einer Bar in Williamsburg, in der ich sie nicht besuchen durfte, weil ich nicht alt genug war. Dabei hatte ich Julie nicht mal geliebt. Ich hatte sie bewundert, ich war von ihr besessen gewesen, ich hatte sie um ihr Selbstbewusstsein beneidet und sogar ein bisschen Angst vor ihr gehabt, aber geliebt hatte ich sie eigentlich nicht, nicht mehr als sie mich. Ich war auch nicht so sicher, dass ich Kitsey liebte (zumindest nicht so, wie ich mir einmal gewünscht hatte, sie zu lieben), aber es war doch überraschend, wie elend mir zumute war, wenn man bedachte, dass ich diese Nummer nicht zum ersten Mal erlebt hatte.
    XXIII
    Die Sache mit Kitsey hatte Boris’ Besuch vorübergehend aus meinen Gedanken verdrängt, aber als ich eingeschlafen war, kam alles seitwärts im Traum zurück. Zweimal wachte ich auf und saß kerzengerade im Bett: einmal, weil eine Tür im Lagercontainer albtraumhaft aufschwang, während sich draußen Kopftuchfrauen um einen Haufen gebrauchter Kleider zankten, und dann– ich schlief wieder ein und geriet in eine andere Inszenierung desselben Traums– war die Lagereinheit ein mit zarten Gardinen abgeteilter, zum Himmel offener Raum, wehende Wände aus Stoff, nicht ganz lang genug, um das Gras zu berühren. Dahinter öffnete sich die Aussicht auf grüne Felder und Mädchen in langen weißen Kleidern: ein Bild, das (mysteriöserweise) mit so viel todesschwangerem, ritualistischem Horror beladen war, dass ich nach Luft schnappend aufwachte.
    Ich schaute auf mein Telefon. 04:00Uhr. Nach einer elenden halben Stunde saß ich mit nacktem Oberkörper im Dunkeln im Bett und kam mir vor wie ein Gauner in einem französischen Film, als ich mir eine Zigarette anzündete und auf die Lexington Avenue hinausstarrte, die um diese Zeit praktisch leer war: Taxen traten ihren Dienst an oder machten gerade Feierabend– was auch immer. Aber der Traum, der mir prophetisch vorkam, wollte nicht verwehen, sondern hing da wie ein giftiger Dunst, und ich hatte immer noch Herzklopfen vom Lufthauch der Gefahr, vom Gefühl offener Bedrohlichkeit.
    Wer immer das getan hat, gehört erschossen. Ich hatte mir schon Sorgen genug um das Bild gemacht, als ich noch davon ausgegangen war, es wäre das Jahr über gut aufgehoben (wie mir die Broschüre der Lagerfirma in forsch formulierten, professionellen Sätzen versichert hatte), bei unter konservatorischen Gesichtspunkten akzeptablen einundzwanzig Grad Celsius und fünfzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Man konnte so etwas nicht einfach irgendwo aufbewahren. Es vertrug weder Kälte noch Hitze, weder Feuchtigkeit noch direkte Sonneneinstrahlung. Es brauchte eine genau regulierte Umgebung: wie die Orchideen im Blumengeschäft. Bei der Vorstellung, jemand könnte es hinter einen Pizzaofen schieben, schlug mein Götzendienerherz vor einer anderen, aber ähnlichen Version des Entsetzens, das mich gepackt hatte, als ich annahm, die Busfahrerin würde den armen Popper hinauswerfen, mitten im Nirgendwo, irgendwo am Straßenrand.
    Denn schließlich: Wie lange hatte Boris das Bild gehabt? Boris! Selbst Horst, der eingeschworene Kunstliebhaber, hatte mit seinem Apartment nicht den Eindruck gemacht, als sei er in konservatorischen Fragen sonderlich penibel. Mögliche Katastrophen gab es im Überfluss: Rembrandts Sturm auf dem See von Galiläa, das einzige Seestück, das er je gemalt hatte, war Gerüchten zufolge nach falscher Lagerung praktisch zerstört. Vermeers Meisterwerk Der Liebesbrief, von einem Hotelkellner aus dem Rahmen geschnitten, mit abblätternder Farbe und zerknickt, weil es unter einer Matratze gelegen hatte. Picassos Armut und Gauguins Landschaft auf Tahiti, von Wasser beschädigt, nachdem ein Idiot sie auf einer öffentlichen Toilette versteckt hatte. Die Geschichte, die mich bei meiner obsessiven Lektüre am meisten verfolgt hatte, war die von Caravaggios Christi Geburt mit den Heiligen Franziskus und Laurentius, gestohlen aus dem Oratorio di San Lorenzo und derart achtlos aus dem Rahmen geschnitten, dass der Sammler, der den Diebstahl in Auftrag gegeben hatte, in Tränen ausbrach, als er es sah, und sich weigerte, es abzunehmen.
    Kitseys Telefon, sah ich, war nicht an seinem

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