Der Distelfink
wirklich okay ist, dass der unzuverlässige Teenager das Auto nimmt. » Film Forum? «
» Stimmt « , sagte ich nervös. Er brauchte nicht zu wissen, dass ich mit ihr in den Glenn-Gould-Film gehen wollte, denn er wusste, ich hatte ihn schon gesehen.
» Sie sagt, ihr wollt euch den Glenn Gould ansehen? «
» Ja, ähm, ich hatte Riesenlust, ihn noch mal zu sehen. Sag ihr nicht, dass ich schon drin war « , bat ich impulsiv. » Oder hast du, äh… «
» Nein, nein. « Er richtete sich hastig auf. » Hab ich nicht. «
» Na ja, dann, hm… «
Hobie rieb sich die Nase. » Na, weißt du, er ist sicher toll. Ich würde ihn selbst gern sehen. Aber nicht heute Abend « , fügte er sofort hinzu. » Ein andermal. «
» Oh… « Ich gab mir große Mühe, enttäuscht zu klingen, aber ich schaffte es nicht.
» Wie auch immer. Soll ich für dich auf den Laden aufpassen? Falls du noch nach oben gehen und dich waschen und frischmachen möchtest? Du solltest spätestens um halb sieben losgehen, wenn du vorhast, zu Fuß hinzugehen, weißt du. «
XXVI
Unterwegs summte ich lächelnd vor mich hin, und als ich um die Ecke kam und sie vor dem Kino stehen sah, war ich so nervös, dass ich kurz stehen bleiben und mich sammeln musste, bevor ich auf sie zustürzen und ihr mit ihren Tüten helfen konnte (sie, beladen mit Einkäufen, schwatzte los und erzählte vom Tag). Vollkommene, vollkommene Glückseligkeit in der Schlange mit ihr, nah beieinander wegen der Kälte, und dann hinein, der rote Teppich und der ganze Abend noch vor uns, und sie klatscht in die behandschuhten Hände: » Oh, möchtest du Popcorn? « » Ja, natürlich « , und ich springe zur Theke: » Das Popcorn ist erstklassig hier « – und dann betreten wir zusammen den Kinosaal, und ich berühre beiläufig ihren Rücken, den samtigen Stoff ihres Mantels, ein vollkommener brauner Mantel und eine vollkommene grüne Mütze auf dem vollkommenen, vollkommenen kleinen rothaarigen Kopf– » Hier, am Gang? Sitzt du gern am Gang? « Wir waren gerade oft genug zusammen im Kino gewesen (fünf Mal), dass ich mir sorgfältig hatte merken können, wo sie gern saß, plus ich wusste das alles genau von Hobie, nachdem ich ihn jahrelang unauffällig nach ihrem Geschmack ausgefragt hatte, soweit ich es wagte: nach Vorlieben und Abneigungen und Gewohnheiten, beiläufig eingestreute Fragen hier und da, über fast zehn Jahre hinweg, hat sie gern dies? hat sie gern das?, und jetzt war sie da und drehte sich zu mir um und lächelte mich an, mich! Im Kino waren viel zu viele Leute, denn es war die Sieben-Uhr-Vorstellung, viel mehr Leute, als mir in Anbetracht meiner allgemeinen Beklommenheit und Abneigung gegen überfüllte Räume lieb waren, und es tröpfelten auch immer noch welche herein, als der Film schon angefangen hatte, aber das war mir egal, ich hätte auch in einem Fuchsloch an der Somme stecken und von den Deutschen beschossen werden können, denn wichtig war nur sie im Dunkeln neben mir, ihr Arm an meinem. Und die Musik! Glenn Gould am Klavier, mit wildem Haar, überschäumend, den Kopf in den Nacken geworfen, ein Abgesandter aus dem Reich der Engel, verzückt und verzehrt vom Erhabenen! Immer wieder warf ich wider Willen verstohlene Blicke auf sie, aber es dauerte doch eine halbe Stunde, bis ich den Mut fand, mich umzudrehen und sie wirklich anzusehen– ihr Profil, weiß überstrahlt vom Leuchten der Leinwand–, und zu meinem Entsetzen erkannte ich, dass ihr der Film nicht gefiel. Sie langweilte sich. Nein: Sie war bestürzt.
Den Rest des Films verbrachte ich niedergeschlagen und sah kaum noch zu. Besser gesagt, ich sah ihn jetzt mit ganz anderen Augen: nicht das ekstatische Wunderkind, nicht den Mystiker, den Einzelgänger, der auf dem Höhepunkt seines Ruhms heldenhaft von der Konzertbühne abtritt und sich ins verschneite Kanada zurückzieht– sondern den Hypochonder, den Eremiten, den Eigenbrötler. Den Paranoiker. Den Pillenfresser. Nein, den Drogensüchtigen. Den Obsessiven: mit Handschuhen aus Angst vor Keimen, das ganze Jahr über in Schals gewickelt, zuckend und von Zwangshandlungen geschüttelt. Ein nachtaktiver Kauz mit hochgezogenen Schultern, der im einfachsten Umgang mit Menschen so unsicher war, dass er (in einem Interview, das mir plötzlich zur Qual wurde) den Tontechniker fragte, ob sie nicht zu einem Anwalt gehen und sich offiziell zu Brüdern erklären lassen könnten– sozusagen das späte Genie in einer tragischen Version von Tom Cable und mir, wie
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