Der Distelfink
mein Zimmer, okay? «
Sie machte ein erschrockenes Gesicht und berührte ihre Stirn mit den Fingerspitzen. Ich Dummerchen. » Oh, ja, sorry! Ich bleibe hier. «
Ich fing erst wieder an zu atmen, als ich in meinem Zimmer war und die Tür geschlossen hatte. Mein Anzug war okay dafür, dass er von gestern war, aber mein Haar war schmutzig, und ich sah aus, als müsste ich unter die Dusche. Sollte ich mich rasieren? Ein frisches Hemd anziehen? Oder würde sie das bemerken? Würde es komisch aussehen, dass ich weggelaufen war und versucht hatte, mich für sie frischzumachen? Könnte ich ins Bad schleichen und mir die Zähne putzen, ohne dass sie es bemerkte? Und plötzlich erfasste mich eine Woge der Gegenpanik, weil ich hinter geschlossener Tür in meinem Zimmer saß und mir wertvolle Augenblicke mit ihr entgehen ließ.
Ich stand auf und öffnete die Tür. » Hey « , rief ich durch den Korridor.
Ihr Kopf schaute wieder um die Ecke. » Hey. «
» Gehst du heute Abend mit ins Kino? «
Eine kurze, überraschte Pause. » Ja, gern. Was gibt’s? «
» Einen Dokumentarfilm über Glenn Gould. Hab ewig drauf gewartet. « In Wahrheit hatte ich ihn schon gesehen; ich hatte die ganze Zeit im Kino gesessen und so getan, als säße sie neben mir– hatte mir in verschiedenen Momenten ihre Reaktion und dann das erstaunliche Gespräch vorgestellt, das wir nachher führen würden.
» Klingt wahnsinnig. Um wie viel Uhr? «
» Gegen sieben. Ich seh noch mal nach. «
XXV
Den ganzen Tag über war ich praktisch außer mir vor Aufregung bei dem Gedanken an den Abend, der vor mir lag. Unten im Geschäft (wo ich mit der Weihnachtskundschaft so viel zu tun hatte, dass ich meinen Plänen keine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen konnte) überlegte ich, was ich anziehen würde (etwas Lässiges, keinen Anzug, nichts allzu Bemühtes) und wo ich mit ihr essen gehen würde– nicht zu ausgefallen, nichts, was sie in die Defensive bringen oder von mir aus gewollt aussehen würde, aber trotzdem etwas wirklich Besonderes wäre, etwas Besonderes und Bezauberndes und ruhig genug, um uns zu unterhalten, und zugleich nicht allzu weit vom Film Forum entfernt. Außerdem war sie längere Zeit nicht in der Stadt gewesen, und deshalb würde es ihr wahrscheinlich Spaß machen, etwas Neues zu sehen ( » Oh, dieses kleine Lokal? Ja, es ist super, freut mich, dass es dir gefällt, eine echte Entdeckung « ), aber von alldem abgesehen (und Ruhe war das Wichtigste, wichtiger als das Essen oder die Location, ich wollte nirgends mit ihr hingehen, wo wir uns anschreien müssten) musste es ein Lokal sein, in dem ich uns kurzfristig einen Tisch besorgen könnte– und dann war da ja auch noch das Vegetarier-Problem. Also ein charmantes Restaurant. Nicht so teuer, dass es die Alarmglocken schrillen ließ. Es durfte nicht aussehen, als machte ich mir allzu große Umstände; es musste spontan und ungeplant wirken. Wie zum Teufel konnte sie mit diesem idiotischen Everett zusammenleben? Mit seiner schlechten Kleidung, seinen Hasenzähnen und seinen dauernd erschrocken blickenden Augen? Der aussah, als wäre seine Vorstellung von einem irren Abendessen eine Portion brauner Reis mit Seetang von der Theke im hinteren Teil des Bioladens?
So kroch der Tag dahin, und dann war es sechs, und Hobie kam von seinem Ausflug mit Pippa nach Hause und steckte den Kopf ins Geschäft.
» Aha! « , sagte er nach einer kurzen Pause in dem fröhlichen, aber zurückhaltenden Ton, der mich (bedrohlich) an den erinnerte, den meine Mutter angeschlagen hatte, wenn sie nach Hause kam und meinen Dad am Rande eines Aufschwungs herumschwirren sah. Hobie wusste, was ich für Pippa empfand– ich hatte es ihm nie erzählt, nie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verloren, aber er wusste es, und selbst wenn er es nicht gewusst hätte, wäre es für ihn (und für jeden Fremden, der von der Straße hereinkam) unübersehbar gewesen, dass Funken aus meinem Kopf sprühten. » Wie geht’s? «
» Bestens! Wie war’s bei dir heute? «
» Oh, wundervoll! « , sagte er erleichtert. » Ich konnte uns zum Lunch einen Platz am Union Square ergattern. Wir haben an der Bar gesessen. Schade, dass du nicht dabei warst. Dann waren wir oben bei Moira und sind dann zu dritt zur Asia Society spaziert, und jetzt ist sie noch unterwegs und macht Weihnachtseinkäufe. Sie sagt, du– äh, du triffst dich heute Abend mit ihr? « Die Frage kam beiläufig, aber mit dem Unbehagen eines Vaters, der sich fragt, ob es
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