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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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wir bei ihm zu Hause im dunklen Garten die aufgeschnittenen Daumen aneinanderpressen, oder, noch sonderbarer, von Boris, wie er meine an den Knöcheln blutende Hand packt, als ich ihn auf dem Spielplatz geschlagen habe, und sie an seinen blutigen Mund drückt.
    XXVII
    » Du bist aufgebracht « , sagte ich impulsiv, als wir aus dem Kino kamen. » Es tut mir leid. «
    Sie sah zu mir auf, als sei sie erschrocken, weil ich es bemerkt hatte. Wir waren in eine von bläulichem Traumlicht erfüllte Welt hinausgetreten: der erste Schnee dieses Winters, zwei Handbreit tief auf dem Boden.
    » Wir hätten auch hinausgehen können. «
    Statt zu antworten, schüttelte sie nur wie betäubt den Kopf. Schnee wirbelte magisch herab, die reine Idee des Nordens, der reine Norden eines Films.
    » Nein, nein « , sagte sie zögernd. » Ich meine, es ist nicht so, dass es mir nicht gefallen hat… «
    Wir schlitterten unsicher die Straße enlang. Keiner von uns hatte die richtigen Schuhe an. Unsere Schritte knirschten laut, und ich hörte aufmerksam zu und wartete darauf, dass sie weiterredete, und ich hielt mich bereit, jeden Moment nach ihrem Ellenbogen zu greifen, sollte sie ausrutschen, aber als sie sich zu mir umdrehte und mich ansah, sagte sie nur: » O Gott. Jetzt kriegen wir niemals ein Taxi, was? «
    Meine Gedanken überschlugen sich. Was war denn mit Essen? Was sollte ich tun? Wollte sie etwa nach Hause? Verdammt! » Es ist nicht so weit. «
    » Oh, das weiß ich, aber– ah, da ist eins! « , rief sie, und mir rutschte das Herz in die Hose, bis ich sah, dass jemand anders es gottlob schon weggeschnappt hatte.
    » Hey « , sagte ich. Wir waren in der Nähe der Bedford Street– Lichter, Cafés. » Was hältst du davon, wenn wir es da vorn versuchen? «
    » Ein Taxi zu erwischen? «
    » Nein, was zu essen. « (War sie hungrig? Bitte, lieber Gott: Mach, dass sie hungrig ist.) » Oder wenigstens was trinken. «
    XXVIII
    Irgendwie– als hätten die Götter dafür gesorgt– war die halb leere Weinbar, in die wir uns spontan hineindrückten, warm und golden und von Kerzen beleuchtet und viel, viel besser als eins der Restaurants, an die ich gedacht hatte.
    Ein winziger Tisch. Mein Knie an ihrem Knie– war es ihr bewusst? So bewusst wie mir? Die Kerzenflamme überhauchte ihr Gesicht, glänzte metallisch in ihrem Haar, das Haar so hell leuchtend, dass es aussah, als wolle es in Flammen aufgehen. Alles funkelnd, alles süß. Sie spielten alte Sachen von Bob Dylan, mehr als perfekt für schmale Straßen im Village kurz vor Weihnachten, wenn der Schnee in großen, fedrigen Flocken herunterwirbelt, in einem Winter, in dem man gern durch die Großstadtstraßen spaziert und ein Mädchen im Arm hält wie auf der alten Plattenhülle– denn Pippa war genau dieses Mädchen, nicht die Hübscheste, sondern das Mädchen ohne Make-up, irgendwie alltäglich, das er sich ausgesucht hatte, um mit ihr glücklich zu sein, und tatsächlich war dieses Bild auf seine Weise das Idealbild des Glücks: wie er seine Schultern hochzog, und die leichte Verlegenheit in ihrem Lächeln, dieser Open-End-Look, als könnten sie einfach zusammen davonspazieren, wohin sie wollten, und– da war sie! sie! und sie erzählte von sich, liebevoll und altvertraut, und fragte mich nach Hobie und dem Geschäft und meiner Stimmung und wollte wissen, was ich las und was ich hörte, Fragen über Fragen, aber offenbar brannte sie auch darauf, mich an ihrem Leben teilhaben zu lassen, und sprach von ihrer kalten Wohnung, deren Heizung so teuer war, von deprimierendem Licht und feuchtem, muffigem Geruch, von billigen Klamotten auf der High Street und so vielen amerikanischen Ladenketten in London, dass es inzwischen aussah wie in einem Einkaufszentrum, und welche Medikamente nimmst du, und welche nehme ich (wir litten beide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer Krankheit, die in Europa anscheinend anders abgekürzt wurde und mit der man in einem Lazarett für Armeeveteranen landen konnte, wenn man nicht aufpasste), und sie sprach von ihrem winzigen Garten, den sie mit einem halben Dutzend Leuten teilte, und von der verrückten Engländerin, die ihn mit kranken Schildkröten bevölkerte, die sie aus Südfrankreich eingeschmuggelt hatte ( » die sterben alle, an Kälte und Unterernährung– es ist wirklich grausam– sie füttert sie nicht richtig, nur mit Brotkrümeln, kannst du dir vorstellen, dass ich ihnen in der Tierhandlung Schildkrötenfutter kaufe und ihr nichts

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