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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Sortiment an holländischem Käse servierte. Aber weil er trotzdem immer wieder mit der Tribune ankam, schlich ich mich vor Sonnenaufgang über die hintere Treppe hinunter, um mir holländische Zeitungen zu holen, die griffbereit aufgefächert auf einem Tisch gleich neben der Treppe lagen, sodass ich nicht an der Rezeption vorbeigehen musste.
    Bloedend. Moord. Die Sonne ging anscheinend erst um neun auf, und auch dann war sie dunstig und düster, stand tief am Himmel und warf ein schwaches Fegefeuerlicht, das aussah wie ein Bühneneffekt in einer deutschen Oper. In der Zahnpasta, mit der ich das Revers meines Mantels geschrubbt hatte, war anscheinend Peroxid gewesen, denn die bearbeitete Stelle war zu einem weißen Fleck von der Größe meiner Hand ausgebleicht. Kalkig an den Rändern, umrahmte sie den gerade noch sichtbaren Geist von Frits’ Schädelplasma. Gegen halb vier nachmittags begann das Licht zu schwinden, und um fünf war es stockfinster. Wenn dann nicht zu viele Leute auf der Straße waren, schlug ich den Mantelkragen hoch, band mir den Schal fest um den Hals und huschte– möglichst mit gesenktem Kopf– im Dunkeln zu einem winzigen, von Asiaten geführten Laden, der ein paar hundert Schritte vom Hotel entfernt war, und dort kaufte ich mir von meinen restlichen Euros verpackte Sandwiches, Äpfel, eine neue Zahnbürste, Hustendrops und Aspirin und Bier. Is alles?, fragte die alte Lady, und ihr Holländisch klang gebrochen. Mit einer Langsamkeit, die mich rasend machte, zählte sie mein Kleingeld. Klick, klick, klick. Ich hatte Kreditkarten, aber ich war entschlossen, sie nicht zu benutzen– noch eine der willkürlichen Spielregeln, die ich für mich aufgestellt hatte, eine völlig irrationale Vorsichtsmaßnahme, denn wem wollte ich damit etwas vormachen? Was änderten zwei Sandwiches aus dem Supermarkt, wenn das Hotel meine Kreditkarte schon belastet hatte?
    Teils war es Angst, teils Krankheit, die mein Urteilsvermögen vernebelten, denn die Erkältung oder Grippe oder was auch immer ich mir eingefangen hatte, wollte nicht weggehen. Mit jeder Stunde, so schien es, rutschte mein Husten tiefer, schmerzte die Lunge mehr. Es stimmte, was ich über die Holländer und ihre Reinlichkeit gehört hatte, über ihre Putzmittel: In dem Laden gab es eine verwirrende Auswahl von Mitteln, die ich noch nie gesehen hatte. Ich kehrte mit einer Flasche in mein Zimmer zurück, auf der ein schneeweißer Schwan vor einem schneebedeckten Berggipfel zu sehen war, und das hintere Etikett zeigte einen Totenschädel mit zwei gekreuzten Knochen. Es war stark genug, um die Streifen aus dem Hemd zu bleichen, aber nicht die Flecken am Kragen, die von dunkel leberfarbenen Klecksen zu unheimlichen Konturen verblasst waren, die einander überlappten wie Baumpilze. Mit tränenden Augen spülte ich es zum vierten oder fünften Mal aus, verschnürte es in Plastiktüten und schob es ganz hinten in einen hohen Schrank. Wenn ich es nicht beschwerte, würde es im Kanal schwimmen, und ich wagte nicht, es auf der Straße in einen Mülleimer zu werfen– jemand würde mich dabei sehen, und man würde mich erwischen, so würde es kommen, davon war ich zutiefst und irrational überzeugt, ganz so, wie man etwas in einem Traum weiß.
    Eine Weile. Wie lange dauerte eine Weile? Drei Tage, höchstens, hatte Boris auf Anne de Larmessins Party gesagt. Aber da hatte er Frits und Martin nicht mit einkalkuliert.
    Glocken und Girlanden, Adventssterne in den Schaufenstern, Bänder und vergoldete Walnüsse. Nachts trug ich Socken, meinen fleckigen Mantel und einen Pullover mit Polokragen unter der Bettdecke, denn wenn ich den Knopf an der Heizung, den Anweisungen in der ledernen Hotelmappe entsprechend, gegen den Uhrzeigersinn drehte, wurde das Zimmer nicht warm genug, um gegen die fieberbedingten Gliederschmerzen und das Frösteln zu helfen. Weiße Daunendecke, weißer Schwan. Das Zimmer roch nach Bleichmittel wie ein billiger Whirlpool. Ob die Zimmermädchen es auf dem Flur riechen konnten? Auf Kunstdiebstahl standen nicht mehr als zehn Jahre, aber mit Martin hatte ich eine Grenze in ein anderes Land überschritten– One Way, ohne Rückfahrkarte.
    Aber irgendwie hatte ich eine gangbare Methode entwickelt, an Martins Tod oder, besser gesagt, um ihn herum zu denken. Die Tat– mit ihrer ewigen Gültigkeit– hatte mich in eine dermaßen andere Welt geworfen, dass ich in jeder praktischen Hinsicht bereits tot war. Ich hatte das Gefühl, jenseits von allem,

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