Der Distelfink
einer bestimmten Ebene habe ich dies alles geschrieben, um zu verstehen. Aber– auf einer anderen Ebene will ich es gar nicht verstehen oder versuchen, es zu verstehen, denn dann würde ich die Tatsachen verdrehen. Eigentlich kann ich nur sagen, dass ich das Geheimnis der Zukunft niemals so sehr gespürt habe: das Gefühl der ablaufenden Sanduhr, das schnell fließende Fieber der Zeit. Unbekannte, ungewählte, ungewollte Mächte. Und ich bin so lange gereist, war vor dem Morgengrauen in Hotels in fremden Städten, war so lange unterwegs, dass ich das Vibrieren der Düsengeschwindigkeit in meinen Knochen spüre, in meinem Körper, ein Gefühl von ständiger Bewegung über Kontinente und Zeitzonen, das noch lange anhält, wenn ich aus dem Flugzeug gestiegen bin und auf die soundsovielte Rezeption zuschwanke, hi, mein Name ist Emma/Selina/Charlie/Dominic, willkommen im Soundso-Hotel! Erschöpftes Lächeln, ich unterschreibe mit zittriger Hand, ziehe die nächste Jalousie herunter, liege im nächsten fremden Bett im nächsten fremden Zimmer, das um mich herum wogt, Wolken und Schatten, eine Übelkeit, die sich fast beschwingt anfühlt, das Gefühl, gestorben und in den Himmel gekommen zu sein.
Denn– erst letzte Nacht habe ich von einer Reise geträumt und von Schlangen, gestreiften, giftigen Schlangen mit pfeilförmigen Köpfen, und obwohl sie ganz nah bei mir waren, hatte ich keine Angst, überhaupt keine. Und in meinem Kopf eine Zeile, die ich irgendwo gehört hatte: Sind wir um dich, vergiss zu sterben. Das sind die Lektionen, die mir in verdunkelten Hotelzimmern in den Sinn kommen, mit strahlend beleuchteten Minibars und fremdländischen Stimmen im Korridor, wo die Grenze zwischen den Welten dünn wird.
Und nach Amsterdam, das wahrhaftig mein Damaskus war, Wegstation und Gipfelpunkt meiner Bekehrung, wie man es wohl nennen würde, bin ich jedes Mal wieder tief berührt von der Vergänglichkeit, die Hotels innewohnt– nicht auf die banale Art eines Freizeittouristen, sondern mit einer Inbrunst, die ans Transzendente grenzt. Irgendwann im Oktober, genauer gesagt, um den Tag des Todes herum, war ich in einem Hotel an der mexikanischen Küste mit wehenden Vorhängen in den Fluren, wo alle Zimmer nach Blumen benannt waren. Das Azaleenzimmer, das Kamelienzimmer, das Oleanderzimmer. Opulenz und Pracht, luftige Korridore, die fast in die Ewigkeit reichten, und jede Zimmertür hatte eine andere Farbe. Pfingstrose, Glyzine, Rose, Passionsblume. Und wer weiß– aber vielleicht ist es das, was uns am Ende der Reise erwartet, eine Majestät, die unvorstellbar ist bis zu dem Augenblick, da wir unversehens durch die Tür treten: das, was wir staunend erblicken, wenn Gott endlich Seine Hand von unseren Augen nimmt und sagt: Schau!
[Denkst du je daran aufzuhören?, fragte ich während des langweiligen Teils von Ist das Leben nicht schön?, bei dem Mondscheinspaziergang mit Donna Reed, als ich in Antwerpen war und zusah, wie Boris sich mit einem Löffel und einer Augentropfenpipette etwas zusammenmixte, das er » Pop « nannte.
Verschon mich! Mein Arm tut weh! Er hatte mir die blutige Streifwunde schon gezeigt, die sich– schwarz an den Rändern– tief in seinen Bizeps schnitt. Lass du dich zu Weihnachten anschießen– mal sehen, ob du dann rumsitzen und Aspirin schlucken willst!
Ja, aber du bist verrückt, wenn du es so machst.
Ja– ob du es glaubst oder nicht– für mich kein großes Problem. Mach ich nur zu besonderen Gelegenheiten.
Das hab ich schon öfter gehört.
Ist aber wahr! Bin ja noch nicht drauf. Hab ich Leute gekannt, die drei oder vier Jahre gedrückt haben und okay waren, solange sie es auf zwei-, dreimal die Woche beschränken. Andererseits, fügte Boris düster hinzu– blaues Licht vom Fernseher blinkte auf seinem Löffel– bin ich Alkoholiker. Schaden ist schon angerichtet. Bin ich ein Säufer, bis ich sterbe. Wenn mich was umbringt– er deutete mit dem Kopf auf die Flasche Russian Standard auf dem Couchtisch–, dann das da. Hey, hast du denn noch nie gedrückt?
Glaub mir, ich hatte so schon genug Probleme.
Tja, großes Stigma, viel Angst, ich verstehe. Ich– ehrlich, meistens ich sniffe lieber– Clubs, Restaurants, ist schneller und einfacher, du verschwindest kurz auf dem Männerklo und nimmst eine schnelle Nase. Auf die Art hier– bist du immer gierig danach. Auf meinem Sterbebett werde ich gierig danach sein. Besser, man fängt gar nicht an. Obwohl– es kann echt nerven, wenn du
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