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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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und es ist wirklich sehr persönlich und konkret. Es ist da, in der lichtdurchspülten Atmosphäre, in den Pinselstrichen, die er uns aus der Nähe als das sehen lässt, was sie sind– ein mit der Hand aufgetragenes Leuchten von Pigment mit den sichtbaren Spuren der Pinselborsten–, und in der Distanz geschieht das Wunder, der Witz, wie Horst es nannte– aber eigentlich ist es beides–, der gleitende Vorgang der Transsubstantiation, bei dem Farbe Farbe ist, aber auch Feder und Knochen. Es ist der Ort, wo die Realität das Ideal trifft, wo Witz zu Ernst wird und alles Ernste ein Witz ist. Der magische Punkt, an dem jede Idee und ihr Gegenteil gleichermaßen wahr sind.
    Und ich hoffe, es gibt hier auch noch eine größere Wahrheit über das Leiden oder zumindest über das, was ich darunter verstehe– obwohl mir inzwischen klar ist, dass die einzigen Wahrheiten, die mir wichtig sind, diejenigen sind, die ich nicht verstehe und nicht verstehen kann. Das Geheimnisvolle, Vieldeutige, Unerklärliche. Was nicht in eine Geschichte passt und was keine Geschichte hat. Ein helles Blinken auf einer kaum vorhandenen Kette. Ein Fleck aus Sonnenlicht auf einer gelben Wand. Die Einsamkeit, die jedes lebende Geschöpf von jedem anderen lebenden Geschöpf trennt. Die Trauer, untrennbar von der Freude.
    Denn– was wäre, wenn dieser konkrete Distelfink (und es ist ein sehr konkreter Distelfink) niemals gefangen oder in Gefangenschaft zur Welt gekommen, niemals in einem Haushalt ausgestellt worden wäre, wo der Maler Fabritius ihn sehen konnte? Er kann nicht verstanden haben, warum er gezwungen war, in solchem Elend zu leben: verwirrt von Geräuschen (stelle ich mir vor), geplagt von Rauch, bellenden Hunden, Kochdunst, geneckt von Betrunkenen und Kindern, kaum flugfähig an kurzer Kette. Aber selbst ein Kind kann seine Würde sehen: ein Fingerhut voll Tapferkeit, nichts als Flaum und spröde Knochen. Nicht scheu, nicht einmal hoffnungslos– entschlossen hält er seine Stellung. Weigert sich, vor der Welt zurückzuweichen.
    Zunehmend, merke ich, fixiere ich mich auf diese Weigerung zurückzuweichen. Denn es ist mir gleich, was irgendjemand sagt oder wie oft und gewinnend sie es sagen: Niemand wird mir jemals, jemals einreden können, das Leben sei ein fantastisches, lohnendes Geschenk. Denn dies ist die Wahrheit: Leben ist Katastrophe. Die Grundtatsache des Daseins– des Umhergehens auf der Suche nach Nahrung und Freunden und all dessen, was wir sonst noch tun– ist Katastrophe. Vergesst all diesen » Unsere kleine Stadt « -Unsinn, den man sich erzählt: das Wunder eines neugeborenen Kindes, die Freude an einer einzelnen Blüte, dieses Leben-du-bist-unfassbar-wundervoll etc. Für mich gilt– und das werde ich stur wiederholen, bis ich sterbe, bis ich auf mein undankbares, nihilistisches Gesicht falle und zu schwach bin, um es noch einmal zu sagen: besser nie geboren als geboren in diese Kloake. In diese Jauchegrube mit ihren Krankenhausbetten, Särgen und gebrochenen Herzen. Keine Erlösung, keine Berufung, kein » Neustart « , wie Xandra es gern nannte, kein Weg voran außer Alter und Verlust, kein Weg hinaus außer dem Tod. [ « Beschwerdeabteilung! « , grollte Boris als Junge einmal, wie ich mich erinnere, als wir eines Nachmittags bei ihm zu Hause einmal an das unbestimmt metaphysische Thema unserer Mütter geraten waren: Warum hatten sie– Engel, Göttinnen– sterben müssen? Während unsere grässlichen Väter gediehen und soffen und krochen und weiterwühlten und immerfort herumstolperten und Verheerungen anrichteten, von scheinbar unverwüstlicher Gesundheit? »Sie haben die Falschen genommen! Ein Fehler ist begangen! Alles ist unfair! Wo kann man sich beschweren in diesem Scheißladen? Wer hat hier etwas zu sagen? « ]
    Und– vielleicht ist es albern, in diesem Stil fortzufahren, aber das macht nichts, denn niemand wird es je lesen– hat es denn irgendeinen Sinn zu wissen, dass es für uns alle ein böses Ende nimmt, selbst für die Glücklichsten, und dass wir schließlich alles verlieren, was wichtig ist– und doch auch zu wissen, dass es trotz alledem, und so grausam die Karten in diesem Spiel auch verteilt sein mögen, möglich ist, es mit einer Art Freude zu spielen?
    In all dem nach irgendeinem Sinn zu suchen, erscheint unglaublich bizarr. Vielleicht sehe ich ein Muster nur, weil ich zu lange hingestarrt habe. Andererseits, um Boris zu paraphrasieren, vielleicht sehe ich ein Muster, weil es da ist.
    Auf

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