Der Distelfink
mehr im Spiel. Schock und Aura. Dinge sind stärker und heller, und ich habe das Gefühl, am Rand von etwas Unaussprechlichem zu sein. Verschlüsselte Botschaften in den Bord-Illustrierten. Energieschild. Kompromisslose Sorgfalt. Elektrizität, Farben, Strahlung. Alles ist ein Wegweiser, der auf etwas anderes deutet. Und auf meinem Bett in einem kalten, biskuitfarbenen Hotelzimmer in Nizza mit Balkon über der Promenade des Anglais betrachte ich die Spiegelung der Wolken auf den Schiebefenstern und sehe staunend, wie selbst meine Trauer mich glücklich machen kann und wie ein Teppichboden und Pseudo-Biedermeier-Möbel und ein leise murmelnder französischer Ansager auf Canal Plus– wie das alles so notwendig und richtig erscheinen kann.
Ich würde es genauso gern vergessen, aber das kann ich nicht. Es ist wie das Summen einer Stimmgabel: einfach da. Es ist immer hier bei mir.
Ein weißes Rauschen, ein unpersönliches Tosen. Das abstumpfende Gleißen der Abflug-Terminals. Aber selbst diese seelenlosen, abgeriegelten Orte sind vollgesaugt mit Bedeutung, sie funkeln und donnern davon. Sky Mall. Tragbare Stereoanlagen. Verspiegelte Inseln aus Drambuie und Tanqueray und Chanel No.5. Ich schaue in die ausdruckslosen Gesichter der anderen Passagiere– sie tragen ihre Aktenkoffer, ihre Rucksäcke, und bewegen sich schlurfend dem Ausstieg entgegen–, und ich denke an etwas, das Hobie gesagt hat: Schönheit verändert die Maserung der Realität. Und ich denke auch an jene konventionellere Weisheit: nämlich, dass das Trachten nach Schönheit eine Falle ist, eine Schnellstraße, die in Bitternis und Trauer führt. Schönheit muss mit etwas Sinnvollem vermählt sein.
Nur, was wäre das? Warum bin ich geschaffen, wie ich bin? Warum liegt mir alles an den falschen Dingen und nichts an den richtigen? Oder, um es anders zu drehen: Wieso sehe ich so klar, dass alles, was ich liebe, was mir am Herzen liegt, Illusion ist, und wieso liegt– für mich jedenfalls– alles, wofür sich zu leben lohnt, in diesem Zauber?
Ein großes Leid und eines, das ich erst anfange zu verstehen: Wir können uns unser eigenes Herz nicht aussuchen. Wir können uns nicht zwingen zu wollen, was gut für uns oder gut für andere ist. Wir können uns nicht aussuchen, wer wir sind.
Denn– wird es uns nicht ständig eingehämmert, von Kindheit an? Diese nie hinterfragte Plattitüde in der Kultur…? Von William Blake bis Lady Gaga, von Rousseau und Rumi über Tosca bis Mister Rogers, ist die Botschaft wundersam einförmig und von oben bis unten akzeptiert: Was ist im Zweifel zu tun? Woher wissen wir, was richtig für uns ist? Jeder Psychiater, jeder Karriereberater, jede Disney-Prinzessin kennt die Antwort: » Sei du selbst. « » Folge deinem Herzen. «
Aber jetzt möchte ich wirklich, wirklich einmal erklärt bekommen: Was ist, wenn einer zufällig von einem Herzen besessen ist, dem nicht zu trauen ist? Was ist, wenn das Herz einen aus eigenen, unerforschlichen Gründen willentlich und in einer Wolke unaussprechlichen Leuchtens wegführt von Gesundheit, Häuslichkeit, staatsbürgerlicher Verantwortung, starken gesellschaftlichen Bindungen und allen unbestrittenen gemeinsamen Tugenden, geradewegs hinein in das schöne Lodern des Verderbens, der Selbstzerstörung, der Katastrophe? Hat Kitsey recht? Wenn dein tiefstes Inneres dich singend zum Scheiterhaufen lockt, sollst du dich dann lieber abwenden? Dir die Ohren mit Wachs verstopfen? Den perversen Glanz ignorieren, von dem dein Herz dir zubrüllt? Dich selbst auf einen Kurs bringen, der dich pflichtschuldig zur Norm führt, zu vernünftigen Arbeitszeiten und regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen, zu stabilen Beziehungen und einer zielstrebigen Karriere, New York Times und Brunch am Sonntag, und das alles verbunden mit der Verheißung, irgendwie ein besserer Mensch zu werden? Oder ist es besser, dich– wie Boris– kopfüber und lachend in das heilige Wüten zu stürzen, das deinen Namen ruft?
Es geht nicht um äußeren Schein, sondern um innere Bedeutung. Um eine Pracht in der Welt, aber nicht von der Welt, eine Pracht, die die Welt nicht verstehen kann. Um jenen ersten Blick auf das reine Andere, in dessen Anwesenheit du auswärts erblühst und blühst und blühst.
Ein Ich, das man nicht will. Ein Herz, für das man nichts kann.
Meine Verlobung ist zwar nicht aufgelöst, nicht offiziell jedenfalls, aber man hat mir– auf die freundliche Art der Barbours, leichter als Luft– zu verstehen
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