Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
gegeben, dass niemand vorhat, mich darauf festzunageln. Was perfekt ist. Nichts wurde gesagt, nichts wird gesagt. Wenn ich zum Essen eingeladen bin (was oft der Fall ist, sobald ich in der Stadt bin), ist die Stimmung sehr angenehm und leicht, ja, gesprächig, intim und feinsinnig, aber keineswegs persönlich. Ich werde (fast) wie ein Familienmitglied behandelt und bin jederzeit willkommen; es ist mir gelungen, Mrs. Barbour hin und wieder aus der Wohnung zu locken, und wir haben ein paar schöne Nachmittage draußen verbracht, beim Lunch im Pierre und auf der einen oder anderen Versteigerung. Toddy, ohne im Mindesten undiplomatisch zu sein, hat es sogar hinbekommen, beiläufig und beinahe zufällig den Namen eines sehr guten Arztes zu erwähnen, ohne auch nur anzudeuten, dass ich vielleicht einen gebrauchen könnte.
    [Was Pippa angeht: Sie hat das Oz -Buch behalten, aber die Kette zurückgelassen, zusammen mit einem Brief, den ich so hastig öffnete, dass ich den Umschlag buchstäblich mittendurch riss. Die Kernaussage– ich musste auf die Knie sinken und die Stücke wieder zusammenfügen– lautete: Sie träfe mich schrecklich gerne, unsere gemeinsame Zeit in der Stadt bedeute ihr viel, und wer sonst in der Welt hätte eine so schöne Kette für sie aussuchen können? Sie sei perfekt, mehr als perfekt, aber sie könne sie nicht annehmen, das sei zu viel, es tue ihr leid, und– vielleicht komme es ihr nicht zu, das zu sagen, und dann würde ich es ihr hoffentlich nachsehen, aber ich dürfe nicht denken, sie liebe mich nicht zurück, denn das tue sie, sie tue es. (Wirklich?, dachte ich verwirrt.) Aber es sei kompliziert; sie denke nicht nur an sich, sondern auch an mich, denn wir hätten so viel Gleiches durchgemacht, sie und ich, und seien uns so furchtbar ähnlich– viel zu ähnlich. Und weil wir beide so schwer verletzt worden seien, so früh schon, so gewaltsam und irreparabel, wie es die meisten Menschen nicht verstanden, nicht verstehen konnten, sei es doch ein wenig… riskant, nicht wahr? War es nicht eine Frage der Selbsterhaltung? Zwei wacklige, vom Tod getriebene Personen, die sich so sehr aufeinander würden stützen müssen? was nicht heißen solle, es gehe ihr im Moment nicht gut, denn es gehe ihr gut, aber das könne sich bei jedem von uns beiden blitzartig ändern, nicht wahr? Das Umkippen, das rasende Abwärtsrutschen, und war das nicht eine Gefahr? Dass unsere Mängel und Schwächen einander so ähnlich waren, sodass der eine den anderen so schnell hinunterziehen könne? Und obwohl sie das alles ein bisschen in der Schwebe ließ, begriff ich doch sofort und mit beträchtlichem Erstaunen, worauf sie hinauswollte. (Wie dumm von mir, dass ich es nicht schon früher gesehen hatte– nach all den Verletzungen, dem zerschmetterten Bein, den zahllosen Operationen: die anbetungswürdig schleppende Stimme, der anbetungswürdig schleppende Schritt, die um den Oberköper geschlungenen Arme, die Blässe, die Schals und Pullover und Schichten von Kleidung, das träge, schläfrige Lächeln– sie selbst, ihre verträumte Kindheit, war Erhabenheit und Untergang, der Morphium-Lolli, dem ich all die Jahre nachgejagt war.)
    Aber wie der Leser dieser Zeilen (falls es je einen Leser geben sollte) festgestellt haben wird, birgt die Vorstellung hinabgezogen zu werden keinen Schrecken für mich. Nicht, dass ich Lust habe, jemand anderen mit mir hinunterzuziehen, aber– kann ich mich denn nicht ändern? Kann ich nicht der Starke sein? Warum nicht?]
    [Du kannst von beiden Mädels haben, welches du willst, sagte Boris neben mir auf dem Sofa in seinem Loft in Antwerpen und knackte zwischen den hinteren Backenzähnen Pistazien, während wir Kill Bill sahen.
    Nein, kann ich nicht.
    Und wieso nicht? Ich selber nähme Schneeflöckchen, aber du willst die andere. Warum nicht?
    Weil sie einen Freund hat?
    Und?, fragte Boris.
    Der mit ihr zusammenlebt?
    Und?
    Das denke ich auch: Und? Wenn ich nach London gehe? Und?
    Und das ist entweder eine absolut katastrophale Frage oder die vernünftigste, die ich in meinem ganzen Leben je gestellt habe.]
    Das alles habe ich merkwürdigerweise mit der Vorstellung geschrieben, dass Pippa es eines Tages sehen wird– was natürlich nicht geschehen wird. Niemand wird es sehen, aus offensichtlichen Gründen. Ich habe es nicht aus dem Gedächtnis aufgeschrieben: Das leere Notizbuch, das mein Englischlehrer mir vor all den Jahren geschenkt hat, war das erste einer langen Serie und der Beginn einer

Weitere Kostenlose Bücher