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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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keiner Hinsicht typisch für sein Alter und für seine Zeit war, als Tiere hauptsächlich tot dargestellt wurden, auf üppigen Trophäenstücken, schlaffe Hasen und Fische und Vögel, aufgehäuft und für die Tafel bestimmt? Warum kommt es mir so bedeutsam vor, dass die Wand schlicht ist– ohne Tapisserien, ohne Jagdhörner, ohne Bühnendekoration– und dass er so sorgfältig darauf achtete, seinen Namen und das Jahr so auffallend zu notieren? Denn er kann ja nicht gewusst haben (oder doch?), dass 1654, das Jahr, in dem er das Bild malte, auch das Jahr seines Todes sein würde? Irgendwie liegt darin das Beben einer Vorahnung, als habe er vielleicht gespürt, dass dieses kleine, geheimnisvolle Bild eines der wenigen Werke war, die ihn überleben würden. Diese Anomalie verfolgt mich auf allen Ebenen. Warum nicht etwas Typischeres? Warum nicht ein Seestück, eine Landschaft, ein Historiengemälde, ein Auftragsporträt irgendeiner bedeutenden Persönlichkeit, eine zwielichtige Szene mit Trinkern in einer Schenke– ein Tulpenstrauß, in Gottes Namen, anstelle dieses einsamen kleinen Gefangenen? Angekettet an seine Stange? Wer weiß, was Fabritius uns sagen wollte, als er sich für diesen kleinen Gegenstand entschied? Mit seiner Darstellung des kleinen Gegenstands? Und was ist, wenn es stimmt, was man sagt– wenn jedes große Gemälde in Wirklichkeit ein Selbstporträt ist–, was sagt Fabritius dann über sich selbst? Ein Maler, der von den größten Malern seiner Zeit für so überragend gehalten wurde, der vor so langer Zeit so jung starb und über den wir fast nichts wissen? Über sich selbst als Maler: viel. Seine Linien sprechen für sich. Sehniger Flügel, gekratzte Stoppelfeder. Die Geschwindigkeit des Pinsels ist sichtbar, die Sicherheit der Hand, die dick aufgetragene Farbe. Und doch sind da auch halb transparente Passagen, so liebevoll ausgeführt neben den kühnen, pastosen Strichen, dass Zärtlichkeit in diesem Kontrast liegt, sogar Humor. Der Farbuntergrund ist sichtbar unter den Haaren des Pinsels; er will, dass wir den daunigen Brustflaum fühlen können, seine weiche Textur, und die Sprödigkeit der kleinen Kralle, die sich um die Messingstange krümmt.
    Aber was sagt das Gemälde über Fabritius selbst? Nichts über seine religiöse oder romantische oder familiäre Neigung, nichts über bürgerliche Achtung, beruflichen Ehrgeiz, Respekt vor Reichtum und Macht. Da ist nur ein winziger Herzschlag, die Einsamkeit, die helle, sonnenbeschienene Wand und ein Gefühl der Ausweglosigkeit. Zeit, die sich nicht bewegt, Zeit, die nicht Zeit genannt werden sollte. Und eingesperrt im Herzen des Lichts– der kleine Gefangene, reglos. Ich denke an etwas, das ich über Sargent gelesen habe: wie Sargent in der Porträtmalerei immer nach dem Tier in seinem Modell gesucht hat (eine Neigung, die ich, nachdem ich davon wusste, überall in seinen Werken sehen konnte: in den langen Fuchsnasen und spitzen Ohren seiner Erbinnen, in seinen Intellektuellen mit ihren Hasenzähnen und seinen löwenhaften Industriekapitänen, seinen rundlichen, eulengesichtigen Kindern). Und bei diesem strammen kleinen Porträt ist es nicht schwer, das Menschliche in dem Finken zu sehen. Würdevoll, verwundbar. Ein Gefangener, der einen anderen anschaut.
    Aber wer weiß, was Fabritius beabsichtigte? Von seinem Werk ist nicht genug übrig, um auch nur eine Vermutung anzustellen. Der Vogel schaut zu uns heraus. Er ist nicht idealisiert, nicht vermenschlicht. Wachsam, resigniert. Da ist keine Moral, keine Geschichte. Da ist keine Auflösung. Da ist nur ein doppelter Abgrund: zwischen dem Maler und dem gefangenen Vogel, zwischen dem Dokument, das er von dem Vogel hinterlassen hat, und unserem Erleben, Jahrhunderte später.
    Und, ja– Wissenschaftler könnten sich für die innovative Pinselarbeit und den Einsatz des Lichts interessieren, für den historischen Einfluss des Bildes und seine einzigartige Bedeutung für die niederländische Malerei. Aber ich nicht. Wie meine Mutter vor all den Jahren sagte, meine Mutter, die das Bild liebte, das sie nur aus einem Buch kannte, als Kind ausgeliehen aus der Comanche County Library: Auf die Bedeutung kommt es nicht an. Die historische Bedeutung erstickt es. Über diese unüberbrückbaren Distanzen hinweg– zwischen Vogel und Maler, zwischen Bild und Betrachter– höre ich nur zu gut, was mir da gesagt wird, ein pst! aus einer schmalen Gasse, wie Hobie es ausdrückte, über vierhundert Jahre Zeit hinweg,

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