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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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unregelmäßigen, aber lebenslangen Gewohnheit, seit ich dreizehn war, angefangen mit einer Reihe von förmlichen, aber eigenartig intimen Briefen an meine Mutter: lange, heimwehkranke Briefe, wie man sie an eine Mutter schreibt, die lebt und unruhig auf Neuigkeiten von mir wartet– Briefe, in denen ich erzählte, wo ich jetzt » untergebracht « war (niemals » wohnte « ) und wer die Leute waren, bei denen ich » untergebracht « war, Briefe, die in erschöpfendem Detail schilderten, was ich aß und trank und anzog und im Fernsehen sah, welche Bücher ich las, welche Spiele ich spielte, welche Filme ich sah, was die Barbours sagten und taten, was Dad und Xandra taten und sagten–, und diese Episteln (datiert und unterschrieben, in sorgfältiger Handschrift, bereit, aus dem Buch gerissen und abgeschickt zu werden) wechselten sich ab mit verzweifelten Ausbrüchen– Ich-hasse-die-ganze-Welt und Ich-wünschte-ich-wäre-tot– und knirschend verstreichenden Monaten mit einer oder zwei zusammenhanglosen Kritzeleien, B’s Haus, ich war seit drei Tagen nicht mehr in der Schule, und heute ist schon Freitag, mein Leben als Haiku, ich bin ein halber Zombie, Gott, wir waren gestern so betrunken, dass ich mich an nichts erinnere, wir haben ein Spiel namens » Lügen mit Würfeln « gespielt und Cornflakes und Pfefferminz-Drops zum Abendessen gegessen.
    Trotzdem schrieb ich weiter, als ich wieder in New York war. » Warum zum Teufel ist es hier so viel kälter als in meiner Erinnerung, und warum macht mich diese blöde, verschissene Schreibtischlampe so traurig? « Ich schilderte erstickende Dinnerpartys, ich protokollierte Unterhaltungen und schrieb meine Träume nieder, und ich notierte immer wieder sorgfältig, was Hobie mir unten in der Werkstatt beibrachte.
    achtzehntes Jahrhundert Mahagoni leichter einzupassen als Walnuss– dunkleres Holz täuscht das Auge
    Wenn künstlich gearbeitet – zu gleichmäßig ausgeführt!
Bücherregal zeigt Abnutzung auf unteren Borden durch Staubwischen und Anfassen, aber nicht oben
an verschließbaren Stücken achte auf Kerben und Kratzer unter dem Schlüsselloch, wo der Schlüsselbund an das Holz stößt
    Dazwischen eingestreut Notizen über die Ergebnisse bei Auktionen bedeutender Americana ( » Los77 Fed. teilw. ebonis. Girandôle konvx Spiegel $ 7500 « ) und– in zunehmender Zahl– unheimliche Diagramme und Tabellen, von denen ich irgendwie dachte, sie wären für jemanden, der das Buch in die Hand bekäme, unverständlich. In Wahrheit war alles vollkommen durchschaubar:
1.– 8. Dez.
320,5 mg
9.–15. Dez.
202,5 mg
16.–22. Dez.
171,5 mg
23.–30. Dez.
420,5 mg
    …es zieht sich durch diese täglichen Aufzeichnungen und wächst über sich selbst heraus, das Geheimnis, das nur für mich sichtbar ist: erblüht in der Dunkelheit und niemals namentlich genannt.
    Denn: Wenn unsere Geheimnisse uns definieren– im Gegensatz zu dem Gesicht, das wir der Welt zeigen–, dann war das Bild das Geheimnis, das mich über die Oberfläche des Lebens erhob und mich befähigte zu wissen, wer ich bin. Und es ist da: in meinen Notizbüchern, auf jeder Seite, auch wenn es nicht da ist. Traum und Magie, Magie und Delirium. Die Einheitliche Feldtheorie. Ein Geheimnis um ein Geheimnis.
    [Dieses kleine Kerlchen, sagte Boris im Auto auf der Fahrt nach Antwerpen. Du weiß, dass der Maler es gesehen hat– er hat diesen Vogel nicht aus dem Kopf gemalt, weißt du? Das Kerlchen ist real, angekettet da oben an der Wand, da. Wenn ich ihn sähe, zusammen mit einem Dutzend anderer Vogel von der gleichen Art, ich könnte ihn erkennen, ohne Problem.]
    Und er hat recht. Ich könnte es auch. Und wenn ich in die Vergangenheit zurückgehen könnte, ich würde die Kette binnen eines Lidschlags durchknipsen und mich nicht eine Sekunde lang darum kümmern, dass dieses Bild nie gemalt werden würde.
    Nur– es ist komplizierter. Wer weiß, warum Fabritius den Distelfink überhaupt gemalt hat? Ein winziges, für sich allein stehendes Meisterwerk, einzig in seiner Art? Er war jung und berühmt. Er hatte bedeutende Auftraggeber (obwohl unglücklicherweise fast nichts von dem, was er für sie gemalt hat, erhalten geblieben ist). Man kann ihn sich vorstellen wie den jungen Rembrandt, überflutet von grandiosen Aufträgen, sein Atelier strotzend von Juwelen und Streitäxten, Kelchen und Pelzen, Leopardenfellen und Theaterrüstungen, von Macht und Trauer irdischer Dinge. Warum dieses Sujet? Ein einsamer zahmer Vogel? Der in

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