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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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aussehende Mann zu Mr. Borowsky, während der ältere freundlich in den Klassenraum spähte.
    » Wir möchten nur mit dir reden. Ist das okay? « , fragte der Ältere, als wir auf den gefürchteten Konferenzraum zugingen, in dem die Besprechung mit Mr. Beeman und meiner Mutter am Tag ihres Todes hätte stattfinden sollen. » Du brauchst keine Angst zu haben. « Ein dunkelhäutiger Schwarzer mit einem grauen Ziegenbart, der tough aussah, aber anscheinend nett war, wie ein cooler Cop in einer Fernsehserie. » Wir müssen nur eine Menge Einzelheiten zu diesem Tag zusammenfügen, und wir hoffen, du kannst uns dabei helfen. «
    Ich hatte zuerst Angst gehabt, aber als er sagte, ich bräuchte keine zu haben, glaubte ich ihm– bis er die Tür zum Konferenzraum aufstieß. Da saßen meine Tweedmützen-Nemesis, Mr. Beeman, aufgeblasen wie immer mit seiner Weste und der Uhrkette, Enrique, mein Sozialarbeiter, Mrs. Swanson, die Schulpsychologin (dieselbe, die mir erzählt hatte, es würde mir vielleicht besser gehen, wenn ich ein paar Eiswürfel gegen einen Baum warf), Dave, der Psychiater, wie üblich in schwarzer Levi’s und passendem Rollkragenpullover, und schließlich– Mrs. Barbour in hochhackigen Schuhen und einem perlgrauen Hosenanzug, der aussah, als hätte er mehr gekostet, als der Rest der Anwesenden zusammen in einem Monat verdiente.
    Die Panik stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben. Vielleicht wäre ich nicht ganz so erschrocken gewesen, wenn ich ein bisschen besser begriffen hätte, was mir damals nicht klar war: dass ich minderjährig war, dass bei einer offiziellen Befragung mein Vater, meine Mutter oder ein Vormund anwesend sein musste– und dass man deshalb jeden dazugerufen hatte, der auch nur irgendwie als mein Anwalt präsentiert werden konnte. Aber als ich all diese Gesichter sah und das Aufnahmegerät entdeckte, das mitten auf dem Tisch stand, dachte ich nur, dass alle offiziell Beteiligten zusammengekommen waren, um über mein Schicksal zu urteilen und um über mich zu verfügen, wie sie es für richtig hielten.
    Steif saß ich da und ließ die Fragen, mit denen sie sich warmliefen, über mich ergehen (hatte ich Hobbys? Ging ich einer speziellen Sportart nach?), bis allen klar war, dass dieses einleitende Geplauder mich nicht nennenswert auflockerte.
    Es klingelte zum Ende der Stunde. Spindtüren wurden zugeschlagen, Stimmen murmelten auf dem Flur. » Du bist tot, Thalheim « , rief ein Junge entzückt.
    Der italienische Typ– er heiße Ray, sagte er– rückte seinen Stuhl vor mich hin, sodass wir Knie an Knie saßen. Er war jung, aber massig und sah aus wie ein gutmütiger Limousinenfahrer, und seine abwärtsgerichteten Augen waren feucht, schwimmend, verschlafen wie bei jemandem, der trank.
    » Wir wollen nur wissen, woran du dich erinnerst « , sagte er. » In deinen Erinnerungen herumstochern und uns ein allgemeines Bild von dem Vormittag machen, verstehst du? Denn indem du dich an die Kleinigkeiten erinnerst, fällt dir vielleicht etwas ein, das uns helfen könnte. «
    Er saß so nah vor mir, dass ich sein Deo riechen konnte. » Was denn zum Beispiel? «
    » Zum Beispiel, was es an dem Morgen zum Frühstück gab. Das wäre doch ein guter Anfang, oder? «
    » Äh… « Ich starrte das goldene Armband an seinem Handgelenk an. Dass sie nach so etwas fragen würden, hatte ich nicht erwartet. Die Wahrheit war: Wir hatten an diesem Morgen überhaupt nicht gefrühstückt, denn ich hatte Ärger in der Schule, und meine Mutter war sauer auf mich, aber es war mir peinlich, ihnen das zu sagen.
    » Weißt du es nicht mehr? «
    » Pfannkuchen « , platzte ich verzweifelt heraus.
    » Ach ja? « Ray sah mich durchtrieben an. » Hat deine Mutter sie gemacht? «
    » Ja. «
    » Was hat sie reingetan? Blaubeeren? Schoko-Chips? «
    Ich nickte.
    » Beides? «
    Ich spürte, dass alle mich anschauten. Dann sagte Mr. Beeman in einem so hochtrabenden Ton, als stünde er vor seinem Kurs » Moral in der Gesellschaft « : » Es gibt keinen Grund, eine Antwort zu erfinden, wenn du dich nicht erinnerst. «
    Der Schwarze– in der Ecke, mit einem Notizblock– warfMr. Beeman einen scharfen, warnenden Blick zu.
    » Ehrlich gesagt, mir scheint hier eine Beeinträchtigung des Gedächtnisses vorzuliegen « , warf Mrs. Swanson mit leiser Stimme ein, und dabei spielte sie mit der Brille, die an einer Kette an ihrem Hals hing. Sie war eine Großmutter in fließenden weißen Hemden und mit einem langen grauen Zopf auf dem

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