Der Distelfink
und Dorothy, wie sie sich in der Unterschrift nannten, hätten zum Telefon greifen und mich anrufen sollen? Oder sich ins Auto setzen und in die Stadt fahren, um selbst nach mir zu sehen? Beides taten sie nicht. Ich erwartete zwar gar nicht, dass sie heulend vor Mitgefühl an meine Seite eilten, aber es wäre doch nett gewesen, wenn sie mich mit einer kleinen, wenn auch ungewohnten Geste der Zuneigung überrascht hätten.)
Genau genommen war die Karte von Dorothy (der » Bob « , offensichtlich in ihrer Handschrift, war erst im Nachhinein neben ihren eigenen Namen gequetscht worden). Interessanterweise sah der Umschlag aus, als sei er aufgedampft und wieder zugeklebt worden– von Mrs. Barbour? vom Jugendamt?–, aber die Karte selbst trug eindeutig Dorothys steif senkrechte europäische Handschrift, die exakt einmal im Jahr auch auf einer Weihnachtskarte erschien, eine Handschrift, die, wie mein Vater einmal angemerkt hatte, aussah, als gehörte sie auf eine Schiefertafel im Restaurant La Goulue, auf der das Tagesangebot an Fischgerichten stand. Vorn auf der Karte war eine hängende Tulpe abgebildet, und darunter stand gedruckt der Spruch: NICHTS IST EIN ENDE .
Dorothy war, wenn ich meinen spärlichen Erinnerungen vertrauen konnte, nicht der Mensch, der viele Worte verschwendete, und diese Karte machte keine Ausnahme. Nach ein paar absolut herzlichen Eröffnungsfloskeln– Beileid zu meinem tragischen Verlust, in Gedanken bei mir in dieser Zeit der Trauer– bot sie an, mir einen Busfahrschein nach Woodbriar, Maryland, zu schicken, und deutete gleichzeitig an, dass es ihr und Grandpa Decker aus gewissen medizinischen Gründen schwer möglich sei, den » Forderungen zu entsprechen « , die mit meiner Versorgung verbunden seien.
» Forderungen? « , wiederholte Andy. » Das klingt, als verlangtest du von ihr zehn Millionen in nicht markierten Scheinen. «
Ich schwieg. Seltsamerweise war es das Bild auf der Karte, was mich verstörte. Es war eine völlig normale Karte, wie man sie auf einem Ständer im Drugstore finden kann, aber trotzdem erschien mir das Foto einer verwelkten Blume, mochte es noch so künstlerisch ausgeführt sein, nicht als passendes Motiv für jemanden, dessen Mutter gerade gestorben war.
» Ich dachte, sie wäre so krank. Wieso ist sie diejenige, die schreibt? «
» Was weiß denn ich? « Die gleiche Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Es sah tatsächlich komisch aus, dass mein leiblicher Großvater keinen Gruß dazugesetzt und sich nicht mal die Mühe gemacht hatte, selbst zu unterschreiben.
» Vielleicht « , sagte Andy düster, » hat dein Großvater Alzheimer, und sie hält ihn in seinem eigenen Haus gefangen. Um an sein Geld zu kommen. Das kommt bei jüngeren Ehefrauen ziemlich oft vor, weißt du. «
» Ich glaube nicht, dass er viel Geld hat. «
» Vielleicht nicht. « Andy räusperte sich demonstrativ. » Aber Machtgier ist niemals auszuschließen. › Natur, rot an Zähnen und Klauen ‹ . Vielleicht will sie nicht, dass du dich an das Erbe ranmachst. «
» Kumpel « , Andys Vater blickte ziemlich plötzlich von seiner Financial Times auf, » ich finde nicht, dass diese Unterhaltung eine besonders produktive Richtung nimmt. «
» Na ja, ganz ehrlich, ich verstehe nicht, wieso Theo nicht weiter bei uns bleiben kann « , sagte Andy und sprach damit aus, was ich dachte. » Ich bin froh über die Gesellschaft, und in meinem Zimmer ist jede Menge Platz. «
» Ja, natürlich würden wir ihn alle gern für uns behalten«, sagte Mr. Barbour, aber mit einer Herzlichkeit, die nicht so hundertprozentig überzeugend klang, wie ich es gern gehabt hätte. » Aber was würde seine Familie denken? Nach allem, was ich weiß, ist Kidnapping immer noch verboten. «
» Na, aber ich meine, Daddy « , sagte Andy mit seiner aufreizend fern klingenden Stimme, » das scheint hier doch wohl kaum der Fall zu sein. «
Mr. Barbour stand unvermittelt auf und hielt sein Club Soda in der Hand. Wegen der Medikamente, die er nahm, durfte er keinen Alkohol trinken. » Theo, was ich vergessen habe– kannst du segeln? «
Ich brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen. » Nein. «
» Oh, das ist schade. Andy hatte unglaublich viel Spaß in seinem Segel-Camp oben in Maine letztes Jahr. Nicht wahr? «
Andy schwieg. Er hatte mir zig Mal erzählt, es seien die schlimmsten zwei Wochen seines Lebens gewesen.
» Kannst du das Flaggenalphabet? « , fragte Mr. Barbour mich.
» Wie bitte? «
» Ich habe
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