Der Doge, sein Henker und Ich
ihnen die Kraft zu überleben, obwohl sie sich veränderten. Sie waren nicht tot, sie warteten nur auf die Befreiung.«
»Und das taten Sie.«
»Si, Signorina Collins, ich.«
Jane schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Soviel mir bekannt ist, sind die Bleikammern im achtzehnten Jahrhundert zerstört worden.«
»Ja, das stimmt. Aber nicht alle Räume wurden vernichtet. Es gibt welche, die sind heute noch vorhanden. Sie lagen unter dem Schutt begraben. Man konnte sie nur vom Wasser aus erreichen. Ich habe einen Weg gefunden. Es hat fast ein Jahr gedauert, aber ich schaffte es, und ich räumte ihnen auch einen weiteren Weg frei, damit sie aus ihrem Versteck wieder an die Oberwelt treten konnten. Ich habe dem Dogen die Chance gegeben, den Palast wieder zu beherrschen. Schon bald wird hier das Grauen einkehren. Lassen Sie mal den Sommer kommen, wenn sich die Touristenströme über den Palast ergießen. Da wird ihr Blut fließen, und es wird einsickern in den Boden. Der Doge ist da…«
»Weshalb hat er gemordet?«
»Das war der Henker!«
»Dann er.«
»Weil ich es so wollte. Ich mußte einen Grund haben, Sinclair herzulocken. Obwohl er hier nicht lebt, wäre er erschienen, denn die Morde hätten sich herumgesprochen. Ich aber will ihn schon vorher ausschalten, und das ist mir in einer geheim gehaltenen Aktion gelungen. Morgen früh werde ich mit Sir James Powell telefonieren und ihn bitten, zwei Köpfe und zwei Körper abholen zu lassen, damit Sie beide ein Begräbnis in der Heimat bekommen. Mehr kann ich nicht für Sie tun«, erklärte er voller Zynismus. Dann wandte er sich an die Deutsche. »Ihnen wird es ebenso ergehen. Aber Sie werden Ihr Grab in der Stadt finden, die sie so lieben. Die Kanäle haben viel geschluckt…«
Renate sagte nichts. Die unvorstellbaren Erklärungen des Polizisten hatten ihr die Stimme geraubt.
Aber Jane wollte nicht aufgeben. Sie kannte Situationen wie diese und war auch aus ihnen herausgekommen. »Noch haben Sie nicht gewonnen. Erst wenn ich mit eigenen Augen John Sinclairs Leiche gesehen habe, glaube ich Ihnen.«
»Das kann nicht mehr lange dauern. Turrio beschäftigt sich bereits mit ihm.«
»Und wo steckt der Doge?«
»Er beobachtet uns. Unter den Arkaden gibt es genügend Verstecke.«
»Trägt er noch immer seine Maske?«
»Ja, er muß sie tragen. Seine Feinde haben ihn gezeichnet. Das Gesicht sieht furchtbar aus. Aber das Gold war es, das sein Leben bestimmte. Es gab ihm die Macht und den Reichtum. Aus diesem Grunde trägt er die Maske aus Gold.«
Renate Gehrmanns Arme sanken nach unten. Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf. »Ich… ich kann das einfach nicht glauben«, flüsterte sie. »So etwas ist Horror, das ist…«
»Sie haben die beiden doch gesehen.«
»Ja, das stimmt…«
Sie schwieg, weil der Commissario den rechten Arm in die Höhe gestreckt hatte. Sein Gesicht bekam einen anderen Glanz, das war selbst in der Dunkelheit zu erkennen. »Er ist da!« flüsterte er. »Ja, der Doge ist gekommen.«
»Wo denn?« Renates Stimme klirrte vor Angst.
Torri drehte sich etwas zur Seite. Der Waffenlauf wies nicht mehr direkt auf die beiden Frauen. »Unter den Arkaden«, flüsterte er. »Dort steht er. Schauen Sie hin.«
Die Frauen kamen der Aufforderung nach. Beide entdeckten tatsächlich den goldenen, etwas blassen Schein in der drückenden Finsternis zwischen den Säulen.
Da stand er!
»Seht ihr ihn?« fragte Torri. »Er wird gleich kommen und euch anschauen. Er hat schöne Frauen immer geliebt, auch wenn er sie anschließend in den Tod schickte. Nichts hat sich bei ihm verändert, gar nichts. Auch ihr werdet dieses Schicksal erleiden.«
Renate Gehrmann, die innerlich Schlimmes durchmachte, wollte den unheimlichen Dogen trotzdem sehen und folgte der Blickrichtung des Polizisten.
Jane Collins sah die Sache anders. Wenn sie noch eine Chance hatten, dann jetzt.
Auch Torri schaute in Richtung des Dogen. Er wollte sich schnell wieder umdrehen, weil ihm bewußt wurde, daß die Mündung ins Leere zeigte. Da sprang Jane Collins auf ihn zu!
***
Ich wartete auf den Henker!
Dabei wußte ich genau, daß er in meiner unmittelbaren Nähe lauerte, sich aber nicht zeigte und sich auch nicht durch ein Geräusch verriet. Ich hockte am Boden. Den Mund hielt ich halb geöffnet. Leider mußte ich atmen und tat dies so flach wie möglich.
Die Finsternis umklammerte mich wie eine undurchdringliche Wolke. Nichts konnte ich sehen. Ich fühlte mich umklammert
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