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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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einem kleinen Strand, der in den grünen Grasteppich überging. Die Tiere hatten unsere Ankunft nicht bemerkt, weil jedes sein Kinn ganz sanft am Rücken des anderen rieb. Eine hohe Felswand ragte über dem jenseitigen Flußufer auf und bildete einen idealen Windschutz, während links und rechts von uns Eichen und Buchen in der Herbstsonne leuchteten.
    »Ein hübsches Plätzchen, Mr. Skipton«, sagte ich.
    »Ja, hier können sie sich bei heißem Wasser abkühlen, und für den Winter haben sie die Scheune dort.« John zeigte auf ein niedriges Gebäude mit dicken Mauern und einer einzigen Tür. »Sie können kommen und gehen, wie es ihnen gefällt.«
    Der Klang seiner Stimme lockte die Pferde aus dem Fluß. Als sie in schwerfälligem Trab näher kamen, sah ich, daß sie sehr alt waren. Die Stute war braun und der Wallach rotbraun, aber beide hatten so grau gesprenkelte Deckhaare, daß sie fast wie Falben aussahen. Das kam besonders in ihren Gesichtern zum Ausdruck; die weißen Haare und die tief in den Höhlen liegenden Augen verliehen ihnen ein wahrhaft ehrwürdiges Aussehen.
    Trotzdem tollten sie um John herum, stampften mit den Füßen, warfen die Köpfe zurück und stupsten mit ihren Mäulern an Johns Mütze herum.
    »Macht, daß ihr wegkommt!« schrie er. »Verrückte alte Burschen.« Aber er zupfte an der Mähne der Stute und strich kurz über den Nacken des Wallachs.
    »Wann haben die Tiere zuletzt gearbeitet?« fragte ich.
    »Ach, das wird wohl zwölf Jahre her sein.«
    Ich starrte John an. »Zwölf Jahre! Und waren sie seither immer hier unten?«
    »Ja, sie leben wie Rentner. Haben’s auch verdient.« Er schwieg einen Augenblick, stand mit hochgezogenen Schultern da, die Hände tief in den Jackentaschen. Dann sagte er leise, wie zu sich selbst: »Sie waren Sklaven, als ich noch ein Sklave war.« Er drehte sich um und sah mich an, und einen Moment lang las ich in den blaßblauen Augen etwas von seinen Anstrengungen und Kämpfen, an denen diese Tiere teilgehabt hatten.
    »Aber zwölf Jahre! Wie alt sind sie denn?«
    John verzog den Mund zu einem Grinsen. »Wer von uns ist denn der Tierarzt? Stellen Sie es doch fest.«
    Ich trat vertrauensvoll vor, packte die Oberlippe der Stute und besah mir die Zähne.
    »Großer Gott!« keuchte ich. »So was hab ich noch nie gesehen.«
    Die Schneidezähne waren ungeheuer lang, standen so weit vor, daß sie einen Winkel von fast fünfundvierzig Grad bildeten, und hatten überhaupt keine Altersmerkmale mehr.
    Ich lachte und drehte mich wieder zu dem alten Mann um. »Ich könnte nur raten. Sie müssen es mir schon sagen.«
    »Also die Stute ist ungefähr dreißig und der Wallach ein oder zwei Jahre jünger. Sie hat fünfzehn prächtige Fohlen gehabt und ist nie krank gewesen, bis auf die üblichen Zahnbeschwerden. Wir haben die beiden ein- oder zweimal raspeln lassen, und ich schätze, jetzt muß es wieder mal gemacht werden. Sie lassen das Heu halb gekaut aus dem Mund fallen. Bei dem Wallach ist es am schlimmsten, er hat mächtig viel Mühe, sein Futter zu kauen.«
    Ich steckte meine Hand in das Maul der Stute, packte ihre Zunge und zog sie seitlich heraus. Eine rasche Untersuchung der Backenzähne mit der anderen Hand bestätigte meinen Verdacht: Die Außenkanten der oberen Zähne waren zu stark und schartig geworden, so daß sie die Wangen wundscheuerten. Die Innenkanten der unteren Backenzähne waren in einer ähnlichen Verfassung, und die Zunge rieb sich an ihnen.
    »Das werden wir gleich haben, Mr. Skipton. Ich schleife diese scharfen Kanten ab, und dann geht es wieder.« Ich holte die Raspel aus dem Instrumentenkasten, hielt die Zunge mit einer Hand fest und ließ die rauhe Oberfläche der Raspel über die Zähne gleiten. Ab und zu prüfte ich mit den Fingern, ob die Spitzen schon genügend gekürzt seien.
    »So wird’s gehen«, sagte ich nach ein paar Minuten. »Wenn ich zu sehr glätte, kann sie ihr Futter nicht kauen.«
    »Ist gut«, brummte John. »Nun sehen Sie sich noch den Wallach an. Mit dem stimmt irgendwas nicht.«
    Ich befühlte die Zähne des Wallachs. »Genau wie bei der Stute. Kein Problem.«
    Aber als ich die Raspel betätigte, hatte ich das unbehagliche Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. Das Instrument rutschte nicht bis zum Ende der Zahnreihe; da war irgendein Hindernis. Ich hörte auf zu schleifen und tastete mit den Finger so weit wie möglich nach hinten. Und dabei stieß ich auf etwas Seltsames, Unerwartetes. Ein großes Stück Knochen

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