Der Doktor und das liebe Vieh
Eigentümlichkeit – alle Sidlows beobachteten mich, den Ochsen und einander mit raschen Seitenblicken, ohne dabei den Kopf zu bewegen. Niemand sagte etwas.
Ich hätte das Schweigen gern gebrochen, aber mir fiel nichts Aufmunterndes ein. Dieses Tier sah nicht nach einem gewöhnlichen Erstickungsanfall aus. Ich konnte die Kartoffel deutlich von außen fühlen, sie steckte in der Speiseröhre, außerdem aber erstreckte sich nach oben und unten eine ödematöse Masse über die linke Halsseite. Und damit nicht genug – aus dem Maul tropfte blutiger Schaum. Irgend etwas stimmte hier nicht.
Mir kam ein Gedanke. »Haben Sie versucht, die Kartoffel hinunterzuschieben?«
Ich spürte geradezu das Kreuzfeuer hin und her huschender Blicke. Die Muskeln von Mr. Sidlows fest zusammengepreßten Kinnbacken zuckten nervös. Er schluckte. »Ja, wir haben es ein bißchen versucht.«
»Womit?«
Wieder die vibrierenden Muskeln unter der dunklen Haut. »Mit einem Besenstiel und ein bißchen mit dem Gartenschlauch. Eben das Übliche.«
Das genügte. Es wäre schön gewesen, der erste Tierarzt zu sein, der hier einen guten Eindruck machte, aber es sollte nicht sein. Ich sah den Bauern an. »Leider haben Sie die Speiseröhre zerrissen. Wissen Sie, das ist ein sehr empfindliches Organ; man braucht nur etwas zu fest zuzustoßen, und schon ist es passiert.«
Schweigen. Nur hier und dort ein Zittern und Flattern der Augenlider. »Ich erlebe so etwas nicht zum erstenmal«, fuhr ich fort. »Eine schlimme Sache.«
»Was werden Sie tun?« brachte Mr. Sidlow mühsam hervor.
Ja, was sollte ich tun? Heute, dreißig Jahre später, würde ich vielleicht versuchen, die Speiseröhre zu reparieren. Ich könnte die Wunde mit antibiotischem Puder behandeln und eine Serie Penicillinspritzen geben. Aber hier, an diesem freudlosen Ort, wo das geduldige Tier unter Schmerzen schluckte und Blut aushustete, mußte ich die Waffen strecken. Eine zerrissene Speiseröhre war hoffnungslos. Ich suchte krampfhaft nach passenden Worten.
»Es tut mir leid, Mr. Sidlow, aber dafür gibt es keine Hilfe.« Die Blicke prasselten auf mich nieder, und Mr. Sidlow atmete scharf durch die Nase ein. Ich wußte, was sie dachten – schon wieder so ein Nichtskönner von Tierarzt. »Selbst wenn ich die Kartoffel verlagerte, würde die Wunde beim Fressen infiziert werden. Das Tier bekäme sofort Gangräne, und das bedeutet einen schmerzhaften Tod. An Ihrer Stelle würde ich es schlachten lassen, solange es noch in gutem Zustand ist.«
Die einzige Antwort war ein Zucken der Wangenmuskeln. Ich ließ alle Überredungskünste spielen. »Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen ein Gutachten. Das Fleisch wird bestimmt zum Verkauf freigegeben.«
Mr. Sidlows Miene verfinsterte sich. »Das Tier ist noch nicht schlachtreif«, flüsterte er.
»Nein, aber in ein paar Monaten wäre es gewiß soweit. Sie würden also nicht viel verlieren. Ich will Ihnen was sagen –« ich bemühte mich um einen herzlichen Ton – »wenn ich ins Haus kommen darf, schreibe ich Ihnen jetzt gleich diesen Zettel, und die Sache ist erledigt. Es gibt wirklich keinen anderen Ausweg.«
Ich wandte mich um und ging über den Hof auf die Küche zu. Mr. Sidlow und die Seinen folgten mir wortlos. Ich schrieb schnell die Bescheinigung aus, aber als ich das Papier zusammenfaltete, war ich plötzlich ganz sicher, daß Mr. Sidlow sich nicht im geringsten um meine Ratschläge kümmern, sondern ein oder zwei Tage warten würde, um zu sehen, wie sich die Dinge entwickelten. Der Gedanke an das große verständnislose, von Hunger und Durst geplagte Tier, das krampfhaft zu schlucken versuchte, war mir unerträglich. Ich ging zum Telefon auf der Fensterbank.
»Ich rufe gleich mal Harry Norman im Schlachthof an. Wenn ich ihn darum bitte, kommt er sofort.« Ich verabredete das Nötige, legte den Hörer auf die Gabel und wandte mich zur Tür. Mr. Sidlow drehte mir sein Profil zu. »Es ist abgemacht«, sagte ich. »Harry wird in einer halben Stunde hier sein. Solche Dinge erledigt man am besten so schnell wie möglich.«
Ich ging über den Hof und mußte mich beherrschen, damit ich nicht rannte. Als ich ins Auto stieg, dachte ich an Siegfrieds Ratschlag: »In schwierigen Situationen müssen Sie Ihren Wagen wenden, bevor Sie das Tier untersuchen. Lassen Sie eventuell sogar den Motor laufen. Ein schneller Start ist oft sehr wichtig.« Er hatte recht – es dauerte eine Ewigkeit, unter dem Kreuzfeuer unsichtbarer Blicke den Wagen zu
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