Der Doktor und das liebe Vieh
schien aus dem Gaumen zu ragen.
Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe über den Rücken der Zunge. Nun war der Schaden leicht zu erkennen. Der letzte obere Backenzahn war übermäßig lang geworden, so daß sich jetzt eine säbelartige, etwa drei Zoll lange Spitze in das zarte Gewebe des unteren Zahnfleischs bohrte.
Hier war ein sofortiger Eingriff notwendig. Meine zuversichtliche Stimmung verflüchtigte sich. Jetzt mußte ich nämlich die entsetzliche Schere benutzen – dieses große Ding mit dem langen Griff und der verstellbaren Schraube. Das Instrument machte mich nervös, denn ich gehöre zu den Leuten, die nicht mit ansehen können, wenn jemand einen Ballon aufbläst, und dies hier war die gleiche Prozedur, nur schlimmer. Man umschloß den Zahn mit den scharfen Schneideblättern der Schere und drehte dann sehr langsam die Schraube. Begann der Zahn bald darauf zu ächzen und zu knarren, so wußte man, daß er jede Sekunde abbrechen würde, und wenn er abbrach, war es so, als hätte jemand einen Schuß abgefeuert. Meistens war dann die Hölle los, aber ich hoffte inbrünstig, daß der Wallach, ein ruhiger, alter Gaul, nicht auf seinen Hinterbeinen herumtanzen würde. Die Operation verursachte keine Schmerzen, denn in dem überstehenden Teil des Zahns befand sich kein Nerv – nur das Geräusch war entnervend.
Aus meinem Kasten holte ich das gräßliche Instrument und einen Haussman-Knebel, den ich an den Schneidezähnen anbrachte. Dann öffnete ich die Sperrvorrichtung, bis der Mund weit aufgerissen war. Nun konnte ich alles gut erkennen, und natürlich – da war ein großer Zacken an der anderen Mundseite, genau wie der erste. Ich mußte also zwei von der Sorte entfernen.
Das alte Pferd stand geduldig da. Seine Augen waren fast geschlossen, als hätte es alles gesehen und nichts auf der Welt könnte es mehr aus der Ruhe bringen. Als das scharfe ›Knack‹ ertönte, öffnete das Tier seine weißgeränderten Augen, aber sein Blick drückte nur sanftes Staunen aus. Es bewegte sich nicht einmal. Daß ich auch noch die andere Seite behandelte, schien es überhaupt nicht zu bemerken; mit dem Knebel, der seine Kiefer aufsperrte, sah es genauso aus, als gähne es vor Langeweile.
Während ich die Instrumente einpackte, sammelte John die harten Zahnsplitter auf und betrachtete sie interessiert. »Armer alter Bursche. Ein Glück, daß ich Sie gerufen habe, junger Mann. Ich schätze, er fühlt sich jetzt wesentlich besser.«
Auf dem Rückweg ging der alte John, jetzt von dem Heuballen befreit, doppelt so schnell wie zuvor. Er stapfte unverdrossen bergauf und benutzte dabei die Gabel als Stock. Ich keuchte hinterher und wechselte den Kasten alle paar Minuten von einer Hand in die andere.
Auf halbem Weg entglitt mir das Ding, und so konnte ich endlich einmal stehenbleiben und Atem schöpfen. Obgleich der alte Mann ungeduldig brummte, blickte ich zurück und sah, daß die beiden Pferde zu der flachen Stelle im Fluß zurückgekehrt waren und planschend miteinander spielten. Die Felswand bildete den dunklen Hintergrund des Bildes – der schimmernde Fluß, die bronze- und goldfarben leuchtenden Bäume und das liebliche Grün des Grases.
Als wir den Hof erreichten, machte John einen Augenblick halt. Er nickte ein-, zweimal und sagte: »Ich danke Ihnen, junger Mann.« Dann drehte er sich abrupt um und ging weg.
Ich warf den Kasten erleichtert in den Kofferraum, und plötzlich fiel mein Blick auf den Mann, der uns vorhin so fröhlich gegrüßt hatte. Er saß in einer sonnigen Ecke, an einen Stapel Säcke gelehnt, und nahm gerade sein Eßpaket aus einem alten Brotbeutel.
»Sie waren da unten bei den Pensionären, nicht wahr?« sagte er. »Na, wenn einer den Weg dorthin kennt, dann der alte John.«
»Er besucht sie wohl regelmäßig?«
»Regelmäßig? Jeden Tag, den Gott werden läßt, stapft der alte Bursche zu ihnen hinunter, ganz egal, ob es regnet, schneit oder stürmt. Und immer hat er was bei sich – einen Sack Korn oder Stroh für ihr Lager.«
»Und das macht er schon seit zwölf Jahren?«
Der Mann schraubte seine Thermosflasche auf und goß sich eine Tasse schwarzen Tee ein. »Ja, die Pferde haben all die Zeit nicht gearbeitet, und er hätte von den Roßschlächtern ein gutes Stück Geld für sie kriegen können. Merkwürdiger Kerl, der Alte, nicht wahr?«
»Stimmt«, sagte ich.
Der Gedanke, wie merkwürdig Johns Verhalten war, beschäftigte mich auf der Heimfahrt. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit
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