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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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Straße war nur stellenweise zu sehen, da die Mauern praktisch unter dem Schnee verschwanden, aber der Hof war die ganze Zeit sichtbar. Nachdem ich ungefähr eine halbe Meile zurückgelegt hatte, blies ein plötzlicher Windstoß den Oberflächenschnee zu einer Wolke feiner Partikel auf. Ein paar Sekunden lang war ich völlig allein. Der Hof, das umliegende Moor, alles war verschwunden, und mich befiel ein beklemmendes Gefühl der Isolation, bis der Schleier zerriß.
    Es war schwer, in dem tiefen Schnee zu gehen, und in den Verwehungen sank ich bis zu den Knien ein. Ich stapfte mit gesenktem Kopf weiter. Nun war ich nur noch ein paar hundert Yards von dem Gehöft entfernt. Ich dachte gerade, daß es gar nicht so schwierig gewesen sei, als ich aufblickte und einen wogenden Vorhang von Millionen schwarzer Pünktchen auf mich zukommen sah.
    Ich beschleunigte meine Schritte. Unmittelbar bevor der Schneesturm mich erreichte, merkte ich mir die Lage des Hofes. Aber nach zehn Minuten Stolpern und Rutschen mußte ich feststellen, daß ich vom Weg abgekommen war. Ich bewegte mich auf etwas zu, was gar nicht da war, dessen Form sich nur meinem Gedächtnis eingeprägt hatte.
    Ich blieb einen Augenblick stehen, wieder von dem lähmenden Gefühl der Einsamkeit befallen. Ich war überzeugt, daß ich mich zu weit links gehalten hatte, und so wandte ich mich nun nach rechts. Es dauerte nicht lange, bis ich entdeckte, daß ich wieder in die falsche Richtung gegangen war. Ich fiel in tiefe Löcher, versank bis zu den Ellbogen im Schnee, und das erinnerte mich daran, daß der Boden im Hochmoor nicht wirklich eben war, sondern unzählige Torfgruben aufwies.
    Während ich mich vorwärtskämpfte, sagte ich mir, daß die ganze Sache lächerlich sei. Schließlich war ich hier nicht am Nordpol, und Pike House mit seinem warmen Kaminfeuer konnte nicht weit sein. Aber dann dachte ich wieder an die riesige Moorfläche hinter dem Hof, und ich mußte mich gegen die aufsteigende Angst wehren.
    Die grausame Kälte schien jedes Zeitgefühl auszulöschen. Bald wußte ich nicht mehr, wie lange ich schon in Löcher fiel und aus ihnen herauskroch. Ich wußte nur, daß es mir jedesmal schwerer wurde, wieder auf die Beine zu kommen. Immer stärker fühlte ich das Verlangen, mich hinzusetzen und auszuruhen, ja zu schlafen; die weichen Flocken, die lautlos mein Gesicht streiften und sich auf die geschlossenen Lider legten, hatten etwas Hypnotisches an sich.
    Ich versuchte mir die Überzeugung auszureden, daß ich, wenn ich noch ein paarmal hinfiel, nicht wieder aufstehen würde, als plötzlich etwas Dunkles vor mir auftauchte. Dann berührten meine ausgestreckten Arme etwas Hartes, Rauhes. Ungläubig tastete ich mich an den viereckigen Steinblöcken entlang, bis ich zu einer Ecke kam. Dahinter war ein erleuchtetes Viereck – das Küchenfenster der Claytons.
    Ich schlug gegen die Tür und lehnte mich an die glatten Balken. Mit offenem Mund und qualvoll keuchender Brust rang ich nach Luft. Meine Erleichterung war so ungeheuer, daß sie schon an Hysterie grenzte. Mir schien, ich würde, wenn man die Tür öffnete, kopfüber ins Zimmer fallen. Ich stellte mir vor, wie die Familie sich um mich drängte und mir Brandy einflößte.
    Aber als sich die Tür dann wirklich öffnete, hielt mich irgend etwas aufrecht. Der Anblick eines halbtoten Schneemannes rührte Mr. Clayton offensichtlich nicht im geringsten.
    »Ach, Sie sind’s, Mr. Herriot. Das paßt ja großartig – ich bin gerade fertig mit dem Mittagessen. Warten Sie einen Moment, ich will nur noch meinen Hut aufsetzen. Das Tier steht dort drüben im Stall.«
    Mr. Clayton griff hinter die Tür, stülpte einen zerbeulten Schlapphut auf den Kopf, steckte die Hände in die Taschen und schlenderte pfeifend über die Kopfsteine des Hofes. Er stieß den Riegel des Kuhstalls auf, und mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung trat ich ein; die grimmige Kälte und das Schneegestöber blieben hinter mir zurück.
    Während ich meinen Rucksack ablegte, glotzten mich vier langhaarige kleine Ochsen über eine Hürde hinweg ruhig an. Ihre Kinnbacken bewegten sich rhythmisch. Sie waren von meinem Aussehen ebensowenig beeindruckt wie ihr Besitzer und zeigten ein mildes Interesse, mehr nicht. Hinter den zottigen Köpfen entdeckte ich ein fünftes kleines Tier, dem man einen Sack umgebunden hatte und aus dessen Nase gelblicher Eiter floß.
    Das erinnerte mich an den Grund meines Besuchs. Als ich mit steifen Fingern meine

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