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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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zottigen Kühen verfügte, es fertigbrachte, ihre Kinder so zu ernähren, daß sie geradezu vor Gesundheit strotzten. Einen ersten Anhaltspunkt bekam ich eines Tages, als ich mir ein paar Kälber angesehen hatte und die Rudds mich zu Tisch baten. Fleisch war bei den Bergbauern eine Seltenheit, und ich kannte die üblichen Behelfsspeisen, mit denen man sich vor dem Hauptgang den Magen füllte: Yorkshire Pudding oder Haufen von Hefeklößen. Aber Mrs. Rudd hatte ihre eigene Methode – als Horsd’œuvre gab es bei ihr eine große Schüssel Reispudding mit sehr viel Milch. Das war eine neuartige Vorspeise für mich, doch ich konnte sehen, wie die Familie immer langsamer aß, je weiter sie sich durch den Pudding hindurcharbeitete. Ich war heißhungrig gewesen, als wir zu Tisch gingen, aber nach dem Reis betrachtete ich den Rest der Mahlzeit mit größter Gleichgültigkeit.
    Dick hielt sehr viel von tierärztlichem Rat, und so hatte ich häufig auf dem Birch Tree-Hof zu tun. Nach jedem Besuch gab es ein unveränderliches Ritual: Ich wurde zu einer Tasse Tee ins Haus gebeten, und alle Familienmitglieder legten ihre Geräte nieder und setzten sich, um mir beim Teetrinken zuzuschauen. An den Wochentagen mußte die älteste Tochter zur Arbeit gehen, und die Jungen waren in der Schule, aber sonntags entfaltete sich die Zeremonie zu vollem Glanz: Alle neun Rudds saßen bewundernd um mich herum, während ich meinen Tee trank. Jede Bemerkung aus meinem Mund wurde mit Kopfnicken und Lächeln aufgenommen. Zweifellos war es gut für mein Selbstbewußtsein, daß eine ganze Familie buchstäblich an meinen Lippen hing, doch gleichzeitig weckte es in mir ein seltsames Gefühl der Demut. Es lag wohl an Dicks Charakter. Nicht daß er in irgendwelcher Hinsicht einzigartig war – es gab Tausende von Kleinbauern, die genauso wie er waren –, aber er schien die besten Eigenschaften der Leute aus den Dales zu verkörpern: Widerstandskraft und Unzerstörbarkeit, robuste Einstellung zum Leben, selbstverständliche Großzügigkeit und Gastfreundschaft. Und dann waren da noch jene Eigenschaften, die nur Dick besaß: die Integrität, die aus seinem ruhigen Blick sprach, und der Humor, den er nie verlor. Dick war kein Witzbold, aber er versuchte immer, sich so auszudrücken, daß es komisch klang.
    Wenn ich meine Audienzen in der Küche abhielt, staunte ich, wie zufrieden die Rudds mit ihrem Los waren. Keiner von ihnen hatte jemals Bequemlichkeit oder Luxus kennengelernt, aber es machte ihnen nichts aus. Sie betrachteten mich als ihren Freund, und ich war stolz darauf.
    Sooft ich den Hof verließ, fand ich irgend etwas auf dem Sitz meines Wagens – ein paar selbstgebackene Biskuits, drei Eier oder dergleichen. Ich weiß nicht, wie Mrs. Rudd sich das absparte, doch sie vergaß es nie.
    Dick hatte den brennenden Ehrgeiz, seinen Viehbestand zu steigern, bis er eine Herde Milchkühe besaß, die seinen Wünschen entsprach. Da er keine Rücklagen hatte, war ihm klar, daß er nur langsam und mit großer Mühe vorankommen würde, aber sein Entschluß war gefaßt. Er rechnete nicht damit, daß er selbst es noch erlebte, doch irgendwann, vielleicht wenn seine Söhne erwachsen waren, würden die Leute kommen und die Kühe von Birch Tree bewundern.
    Ich wurde Zeuge des allerersten Anfangs. Als Dick mir eines Morgens auf der Straße begegnete und mich bat, zu seinem Hof mitzukommen, merkte ich ihm an, daß etwas Besonderes geschehen war. Er führte mich in den Kuhstall und blieb schweigend stehen. Es bedurfte auch keiner Worte, denn ich starrte ungläubig auf ein Edelrind.
    Dicks Kühe waren im Lauf der Jahre stückweise zusammengekauft worden und bildeten eine bunt zusammengewürfelte Herde. Die meisten Tiere waren alt und von den wohlhabenden Bauern wegen ihrer hängenden Euter oder weil sie nur noch drei Zitzen hatten ›ausrangiert‹ worden. Andere hatte Dick selbst großgezogen; sie waren struppig und mager. Aber in der Mitte des Stalls stand – was für ein Gegensatz zu den anderen Tieren – eine prächtige Milchkuh.
    »Woher haben Sie dieses Prachtstück?« fragte ich und starrte die Kuh unverwandt an.
    »Ach, ich war drüben bei Weldons und habe sie mir ausgesucht«, antwortete Dick mit gespieltem Gleichmut. »Gefällt sie Ihnen?«
    »Sie ist ein Bild von einer Kuh. Ich habe noch nie eine schönere gesehen.« Die Weldons waren die größten Zuchtviehhalter in den nördlichen Dales, und ich fragte Dick nicht, ob er seinem Bankdirektor ein Darlehen

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